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Europas neue Schokoladenseite

Wie viel Kakao braucht Schokolade? Um diese Frage stritt man in Brüssel leidenschaftlich. Jetzt ist nach 27 Jahren das Reinheitsgebot endgültig gefallen

aus Brüssel DANIELA WEINGÄRTNER

Die Debattenredner im Europaparlament sind gemeinhin dem nüchternen Argument zugeneigt. Doch gestern brach die Leidenschaft aus: Symbolträchtig sei diese Abstimmung, meinte Nicole Thomas-Mauro, Abgeordnete der antieuropäischen RPF aus der Schokoladenstadt Reims. Ihr Landsmann Jean-Louis Bernié aus der „Fraktion für das Europa der Demokratien und der Unterschiede“ sah Authentizität, Ethik und Tradition verraten. Ausgerechnet Jean-Claude Martinez von der Front National witterte eine unheilige Allianz zwischen Haider-Land und Guterres-Land in dieser existentiellen Frage.

Dabei ging es bei der Debatte am Dienstag keineswegs um die Verteidigung der Menschenrechte im Kosovo oder um den FPÖ-Boykott. Es ging um Schokolade. Genauer: um Schokolade als Präzedenzfall, wie die grüne französische Abgeordnete Marie Anne Isler-Beguin es ausdrückte. Heute Schokolade aus Shea-Öl, morgen schon Olivenöl aus Illipefett?

Die Kreuzritter für das Reinheitsgebot auf ihrem Feldzug gegen MGV – ein Kürzel, das sofort an gentechnisch veränderte Organismen denken lässt. Gemeint aber sind Matières Grasses Végétales, pflanzliche Fette. Palm- und Nussöl sowie Fette aus der Illipe-Pflanze oder dem Karite-Baum sollen laut Ratsbeschluss vom Oktober künftig bis zu einem Masseanteil von 5 Prozent in die Schokolade gerührt werden dürfen.

Davon profitieren vor allem die fünf Süßwarenmultis Nestlé, Suchard, Mars, Cadbury und Ferrero, die siebzig Prozent des EU-Marktes unter sich aufteilen. Deshalb sehen viele im süßen Thema Schokolade eben auch ein Symbol für David gegen Goliath, Multis gegen schwer arbeitende kleine Handwerker oder – wie es Yasmine Boudjenah von der Fraktion der Vereinigten Linken formulierte – Profit für wenige statt Qualität für alle.

Die Tonne Kakaobutter kostet auf dem Weltmarkt 3.350 Dollar. Karite-Butter dagegen ist schon für 1.050 Dollar pro Tonne zu haben, die gleiche Menge Palmöl für höchstens 330 Dollar. Ein Preisvorteil, der für Massenhersteller viel stärker ins Gewicht fällt als für kleine Confiserien.

Vor allem die belgischen und französischen Abgeordneten entdeckten ihr Herz für die mittelständische Kultur. Ihre Regierungen hatten im Rat ebenfalls gegen eine Novellierung der Schokoladenrichtlinie gestimmt. Kein Wunder: Allein die belgische Pralinenindustrie beschäftigt 7.000 Menschen und machte 1998 drei Milliarden Mark Umsatz.

Deshalb schimmerte durch manch flammende Rede gegen Gleichmacherei und Traditionsverlust deutlich das nationale Marktinteresse. Statt unheiliger Allianz zwischen Österreich und Portugal die heilige Allianz zwischen Belgien und Frankreich – den beiden Ländern, die mit hochwertigen Schokoladenprodukten viel Geld verdienen und denen die bisherige Regelung ein Exklusiv-Label garantierte.

Die Richtlinie von 1973 legte nämlich fest, dass nur Produkte mit mindestens 35 Prozent Kakaotrockenmasse und 18 Prozent Kakaobutteranteil sich Schokolade nennen dürfen. Die Länder, die der EU später beitraten, durften zwar ihre nationalen Schokoladenrezepte mit höherem Milchanteil oder anderen pflanzlichen Fetten behalten – aber sie mussten ihre Produkte für den Export als „schokoladenähnliche Süßwaren“ kennzeichnen.

„Cadbury“ als schokoladenähnliche Süßware – kein Wunder, dass vor allem die Engländer auf ein Antidiskiminierungsgesetz für ihr Naschwerk drängten. Offiziell ging es natürlich auch Phillip Whitehead von der Labour Party um höhere Werte: Zwei Märkte im gemeinsamen Markt – dieser Zustand müsse ganz schnell beendet werden. Gerade für die Engländer, die in der Vergangenheit nicht gerade als glühende Fans des Binnenmarkts von sich reden machten, ein bemerkenswertes Argument.

Die Plädoyers für die Neuregelung blieben blass im Vergleich zur gegnerischen Leidenschaft. Die schweigende Mehrheit aber ließ den Ratskompromiss passieren. Auch die dem grünen Berichterstatter Paul Lannoye besonders am Herzen liegenden Änderungen – strengere Inhaltskontrollen und obligatorische Studien über Auswirkungen auf die wirtschaftliche Lage der Kakaobauern – kamen nicht durch.

Das im Juni neu gewählte Parlament, in dem die Konservativen die stärkste Fraktion bilden, steht immer seltener für verbraucherfreundliche, Minderheiten und umweltschützende Entscheidungen. Der Kuhhandel im Europäischen Rat, der Interessenausgleich hinter verschlossenen Türen, wird immer häufiger abgenickt. Bei Autoschrott und Trinkwasser lässt sich das gerade noch verschmerzen. Schokolade aber verliert nach neuem Rezept ihre aphrodisische Wirkung. Das hat der französische Meister-Chocolatier Bernard Dufoux den Abgeordneten am Vorabend der Abstimmung gesagt. Vielleicht haben sie ja für Aphrodisiaka keine Verwendung.

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