: Kühler Chronist der kleinen Leute
■ Jan Frey ist Verleger, Autor und Fotograf der Zeitschrift „Klein Mexiko“. Sein Ziel: Den Alltag zu dokumentieren
In Klein-Mexiko kleben die winzigen Häuser wie holländische Weißbrotscheiben aneinander. 55 Quadratmeter große, miserabel gebaute Würfel, voneinander getrennt durch einen Hauch von Wand und auf ewig miteinander verbunden durch die lange Bodenplatte, die gleich in einem Stück für alle Häuser eines Straßenzuges gegossen wurde. Hinter jedem dieser zweistöckigen Heimchen ringt ein Stück Rasenfläche ums grüne Überleben – kaum größer als ein Gästeklo, aber zumeist tiptop zugestellt mit Laube, Liegestühlen, Grillplätzen und Wäscheleine. Manch ein Klein-Mexikaner hat sich im Laufe der Jahre gar einen Ehrenplatz im Olymp der Heimwerker verdient und in dieses Nichts an Garten noch eine Terrasse samt Sonnenschutz hineingebaut. Alle Gärten stehen voll, wenn einer starker Arm das will.
In einem dieser wundersamen Würfel hockt Jan Frey. Und erzählt, wie das von Stader Straße, Bismarckstraße, Benningsenstraße und Bei den drei Pfählen umzingelte Viertel zu seinem exotischen Namen „Klein Mexiko“ kam. Ende der 1920er Jahre ließ der Bremer Senat im von Arbeitslosigkeit und Wohnungsnot heftig geplagten Hastedt für Großfamilien und Arbeitslose in Billigstbauweise Mietshäuser errichten. Das „Westfalenviertel“ war geboren: Ein Wohngebiet voller Kinder und Armer, in dem politisch zudem nach kurzer Zeit die KommunistInnen das Sagen hatten.
Die etwas „bessere“ Gesellschaft rund ums Westfalenviertel fühlte sich beim Anblick dieses befremdenden Treibens vor ihrer gutbürgerlichen Haustür offenbar weniger ans beschauliche Westfalen als vielmehr ans zurück gebliebene finstere Ausland erinnert und bedachte die Siedlung mit dem Spottnamen „Klein Mexiko“. Seit Juni 1997, als Jan Frey die erste Ausgabe herausbrachte, ist „Klein Mexiko“ mehr als ein Spottname: Es ist der Titel einer Zeitschrift, die sich, wie es im Untertitel heißt, dem „Alltag“ widmet. „Klein Mexiko“ erscheint immer dann, wenn der Herausgeber, die Redaktion, der Verlag und der Fotograf – kurzum: wenn Jan Frey meint, er habe genug Geschichten gesammelt, die es zu erzählen lohnt. Bislang hat es für zwei Ausgaben gereicht, die dritte soll in den nächsten Tagen ihren Weg aus Freys fünf Quadratmeter-Verlagshaus im Diemelweg hinaus in die Öffentlichkeit finden.
Stars, Skandale, Sternchen, Sex, Drugs und Rock'n'Roll – all die Themen, um die sich 99 Prozent des Zeitschriftenmarktes wie irr balgen, interessieren den 47-Jährigen nicht die Bohne. Frey guckt lieber dahin, wohin niemand blickt: In die Augen der krankenpflegenden Nachbarin, ins Gesicht des türkischen Gemüsehändlers, ins lange Leben eines Arbeiters, den das Schicksal gebeutelt, aber nicht hat brechen können. So, wie er sie von ihnen erzählt bekommt, schreibt er deren Erlebnisse auf und druckt sie ohne jedes Redigat ab. „Der Deutsche hat eigenartig so ein Leben“ steht dann zum Beispiel über einem Interview mit dem Gemüsehändler Semih Denizyilmaz: Einfach deshalb, weil er den Satz halt so gesagt hat. Und nichts widerstrebt Jan Frey mehr als die Vorstellung, auch nur ein Wort an dem zu verändern, wie er sich ihm eben darbietet: Der Alltag.
So sehr er sich für das Leben anderer interessiert, so zugeknöpft zeigt er sich gegenüber dem, der ihn nach seinem eigenen Leben fragt. Während einer schweren Krankheit vor zehn Jahren habe er sich geschworen, dass er, sollte er lebend aus der Situation herauskommen, eine Zeitschrift gründen wolle. Eine Stimme für jene sollte sie sein, die niemand wahrnehme, sagt Frey, eine Zeitschrift, die jenen Geist atme, der wohl mal in Klein Mexiko geherrscht habe. Außerdem: Schreiben könne er als studierter Germanist ja, zuhören auch. Das muss als Erklärung genügen.
Die gleiche Zurückhaltung, mit der er von sich erzählt, wünscht er sich auch von seiner Zeitschrift. Mit kaltem Blick wolle er nur dokumentieren, was ist. Mehr nicht. Den sechsstündigen Tagesablauf einer Hauspflegerin begleitet er so fotografisch und macht ganz nüchtern alle sechs Minuten ein Bild, und den alten Arbeiterkämpfer Georg Gumpert befragt er teilnahmslos nach seinen Erinnerungen an das frühere Leben in Klein Mexiko.
Freilich: So ganz genügen die beiden bisherigen Ausgaben Freys Selbstverständnis nicht. Immer wieder blitzt auf, dass er etwa den kaltherzigen Umgang mit Flüchtlingen oder alten Menschen, wie Frey ihn erlebt, für unwürdig hält. Aber das seien halt die Fehler des Anfangs, sagt Frey. In Zukunft wolle er sich bemühen, selbst den kleinsten Anflug von Bewertung und Emotion zu vermeiden. Was bleiben soll, ist die Wahrnehmung selbst, unkommentiert. Und jenseits von gut und böse. Gefühle haben in „Klein Mexiko“ nichts zu suchen.
Ob das funktionieren kann? Jan Frey zweifelt daran nicht. Ob sich das seine bisherigen Leser auch wünschen, ist für ihn kein Kriterium. „Im Grunde“, glaubt Frey, „mache ich die Zeitschrift eh für mich.“ Und dafür, dass der Alltag nicht in Vergessenheit gerät.
Franco Zotta
Die zwei bisherigen, knapp 30-seitigen Ausgaben von „Klein Mexiko. Alltag in der Vorstadt“ kosten jeweils 3,60 Mark und sind bei Jan Frey zu erwerben. Anschrift: Diemelweg 6, 28205 Bremen. Tel./Fax: 44 02 48. Die nächste Ausgabe erscheint Anfang April.
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