: Bilder einer neuen Evolution
Der Hamburger Biologe und Fotokünstler Jochen Lempert erhielt den „Gabriele-Peters-Preis für phantastische Wissenschaft“ ■ Von Hajo Schiff
Einhörner sind selten gesehene Tiere. Doch Hamburg besitzt das Horn eines Einhorns. Und das immerhin schon seit 1684. Das Ganze ist eine mehr als kuriose Geschichte. Mit dem Walfänger „Der güldene Löwe“ brachte einst Commandeur Dirk Petersen aus den Gewässern um Spitzbergen genau das mit, was damals als Einhorn höchst teuer gehandelt wurde. Denn dem Horn des mythischen Tieres, das man sich in hirschähnlicher Gestalt im Orient lebend dachte, wurden zahlreiche magische Fähigkeiten zugesprochen. Doch allein die nordeuropäischen Arktisfahrer wussten, dass das meterlange, spiralig gedrehte Horn lediglich ein überdimensional entwickelter Eckzahn des Nerwals war. Und zwar hat nur das männliche Tier einen solchen und nur auf einer Seite.
Doch das Hamburger Einhornexemplar hat seltsamerweise zwei Hörner. Und es stammt nachweislich von einem Weibchen. Dass es überhaupt erhalten ist, grenzt an ein weiteres Wunder. Erst musste es vor Napoleons europaweit herausragende Kunstwerke einsammelnder Kommission versteckt werden, die das ungewöhnliche Exemplar nach Paris entführen wollte, dann wurde es 1943 zufällig als einziges Objekt überhaupt bei der völligen Vernichtung des Hamburger Naturhistorischen Museums gerettet. Heute am Eingang der neuen zoologischen Sammlung der Universität aufgestellt, stiftet es noch immer Verwirrung: Die anerkannte Meeresbiologin Gabriele Peters hat es angeregt, zusätzlich zu ihrer präzisen Forschung über Meeressäuger sich mit Seeungeheuern und anderen phantastischen Grenzbereichen ihres Faches zu befassen.
Als sie 1982 im Alter von nur 56 Jahren starb, hinterließ sie die Stiftung „Gabriele-Peters-Preis für phantastische Wissenschaft“. Diese mit 10.000 Mark dotierte Auszeichnung wurde bisher zweimal verliehen: an die Hamburger promovierte Ethnologin, Per-formance-künstlerin und Münsteraner Professorin Lili Fischer und an den über 80-jährigen Pariser Kryptobiologen Bernard Heuvelmans, den „Brehm der unbekannten Tierarten“ – für seine Forschung an Tieren, deren Existenz zweifelhaft ist. Letzte Woche erhielt den Preis der Hamburger Fotokünstler Jochen Lempert, der zuvor eine Ausbildung als Biologe an der Universität Bonn genossen und in Afrika eine bisher unbekannte Libellenart entdeckt hatte.
Jochen Lemperts fotografisch erstellte Wunderkammer archiviert Tiere – und zwar alle Arten von heute sichtbaren Tieren, wobei die lebendigen allerdings deutlich in der Minderzahl sind: ausgestopfte Demonstrationsexemplare, Plas-tikviecher aller Art, knuddelige Stoffwesen, gestrickte, mit Augen versehene Klopapierschoner, Firmenlogos und Tattoos werden gleichberechtigt ins poetische, wissenschaftsanaloge System aufgenommen. Tatsächlich gibt es heute wohl mehr Teletubbies als Hasen, und die mit Tierbildern verschönerten Gebrauchsgegenstände sind Legion.
In Zeiten, da im Verhältnis von Mensch und Tier die Kreation von Ersatznaturen überwiegt, muss die Evolutionsgeschichte in ästhetischen Analogien neu bebildert werden. Inmitten der Schaukästen mit ausgestopften Tieren, die anderweitig schon in das Fotoarchiv Jochen Lemperts eingegangen sind, hängt im Zoologischen Museum nun der zehn Meter lange, dreireihige Fotoblock „The Lecithin People“. Schmetterlingsflügel und Federmuster treffen sich da mit zebragestreiften Turnschuhen und müden Ravern, denn das themengebende Lezithin steckt nicht nur im äußeren Kleid vieler Tiere, sondern auch in aufmunternden Fitnessmitteln.
Die verschiedenen Bildtableaus Jochen Lemperts verglich Claus Mewes, der Laudator der Preisverleihung, mit den kulturgeschichtlichen Bildatlanten des Hamburger Kunstgeschichtsheroen Aby Warburg, die dieser wiederum in Anlehnung an Tableaus des Evolutionsforschers Charles Darwin und die enzyklopädischen Schautafeln „Kunstformen der Natur“ des Biogenetikers Ernst Haeckel entwi-ckelt hatte: ein fruchtbarer Kreislauf von Naturwissenschaft und Kunst.
Vielleicht wäre es nach fast 60 Jahren ohne Naturgeschichtsmuseum in Hamburg nun ein attraktives Projekt, die jetzt kaum bekannten und auf viele Orte und Magazine in Hamburg verstreuten Sammlungen wieder zu einem großen Museum zu vereinigen und um wissenschaftlich-künstlerische Grenzbereiche zu erweitern. Hohe Besucherzahlen dürften garantiert sein.
Zoologisches Institut und Museum der Universität Hamburg, Martin-Luther-King-Platz 3, Di - Fr 9 - 18, Sa + So 10 - 17 Uhr, bis 16. April
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen