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: „Transit“ fragt, was von den Ideen des Jahres 1989 bleibt

STILLE, ANHALTENDE MELANCHOLIE

Was bleibt von den Ideen des Jahres 1989, vom Völkerfrühling, von den gewaltlosen, den „samtenen“ Revolutionen in Polen, Ungarn, der damaligen Tschechoslowakei – und der DDR? Letztes Jahr nutzte das Wiener Institut für die Wissenschaft vom Menschen, selbst ein Produkt jenes enthusiastischen Aufbruchs, die zehnjährige Wiederkehr des Datums, um einen Bilanzkongress abzuhalten. Im neuen Heft der dem Institut verbundenen Zeitschrift Transit finden sich Beiträge dieser Konferenz. Die Lektüre lohnt.

Den Leser beschleicht beim Studium des Heftes stille, aber anhaltende Melancholie. Damals schien es einen Augenblick lang so, als ob mit den geglückten Revolutionen in Ostmitteleuropa neue beziehungsweise ganz alte, dann aber lang vergessene Beweggründe des politischen Handelns ganz praktische Aktualität erreicht hätten. Zwei Ideenkomplexe waren es vor allem, die die ostmitteleuropäische demokratische Bewegung motivierten und die auch von ihren Bewunderern im Westen aufgegriffen wurden: die Idee der Zivilgesellschaft und die Idee einer menschenrechtsgeleiteten Politik. Erstere verstand sich als ein vernetzter gesellschaftlicher Raum, in dem die Bürger gegenüber dem Staat wie den politischen und ökonomischen Großorganisationen zur selbstbewussten Aktion finden konnten. Die zweite Idee formulierte die Menschenrechte als klaren politischen Geltungsgrund, als einen Zusammenhang von Normen, die das Handeln des Staates ebenso orientiert wie das Verhältnis der Menschen zueinander. „Jeder schuldet jedem die Anerkennung als Gleicher.“ In diesem hellen Satz aus der vom „Runden Tisch“ der DDR erarbeiteten Verfassung fand der Gedanke seinen leider ephemeren Ausdruck.

Nun, damit ist es längst vorbei. Die Rückkehr nach Europa war mit einem Kurs rigider Anpassung an die kapitalistischen Strukturen verbunden, mit der berüchtigten „Schocktherapie“. Wie Jacques Rupnik, der scharfsinnige Franco-Tscheche es in Transit formuliert: Die in Ostmitteleuropa nach 1990 vorherrschende Interpretation der Zivilgesellschaft identifizierte soziale Beziehungen mit dem Markt, und den politischen Überbau mit dem parlamentarischen Institutionensystem, das heißt im Kern mit dem Parteienpluralismus. Also nichts als eine „nachholende Revolution“.

Das Schöne am Transit-Heft ist nun, dass es die Spuren des damaligen Kampfes nicht in einer selbstgefälligen Synthese verschwinden lässt. Die Gegensätze zwischen denen, die auf einem orginalen, bleibenden Beitrag der Revolutionen von 1989 bestehen und denen, die sie als illusionäre Flausen abtun, kommen scharf zum Ausdruck. Auf der einen Seite die Illusionskritiker, vom abwägenden Historiker und Zeitzeugen Timothy Garton Ash bis zu dem ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán, der das Jahr 1989 nicht als erstes Jahr der Freiheit, sondern als letztes der realsozialistischen Unterdrückung darstellt. Auf der anderen Seite, der Seite der „Bewahrer“ der Ideen von 1989, reicht das Spektrum von Adam Michnik, dem geistigen Wegbereiter der polnischen Freiheitsbewegung der 70er- und 80er-Jahre, bis zu János Kis, dem ehemaligen Dissidenten, Philosophen und einstigen Führer der liberalen ungarischen Partei SzDSz. Kis’ Aufsatz überragt alle anderen Beiträge des Heftes, was systematische Genauigkeit, Realitätsbezogenheit und gedanklichen Reichtum angeht. Es gelingt ihm, das Konzept einer menschenrechtsorientierten Politik von bloßem Moralisieren abzugrenzen und damit eine Brücke von 1989 zu den ungeklärten Problemen einer „humanitären Intervention“ von heute zu schlagen.

CHRISTIAN SEMLER

„Transit. Europäische Revue“. Heft 18, Verlag Neue Kritik Frankfurt am Main, 20 DM