: Sohn quält Hund
Ab morgen diskutiert die Geberkonferenz in Brüssel über Finanzmittel für die Krisengebiete auf dem Balkan. Doch der Wiederaufbau der Kultur wird kaum berücksichtigt – eine Bilanz
von THOMAS BROCK
„Wenn man den Stabilitätspakt liest, könnte man denken, dass es auf dem Balkan keine Menschen gibt“, meint Dimitrije Vujadinović. „Es geht um Wirtschaft, Politik und Sicherheit, aber nicht um Menschen und ihre Kultur.“
Der Kosovo-Krieg war erst wenige Stunden beendet, als auf Initiative der Bundesregierung der Stabilitätspakt für Südosteuropa beschlossen wurde. Nach vier Kriegen innerhalb eines Jahrzehnts und hunderttausenden Toten galt es, ein präventives Modell zu entwickeln, um den Teufelskreis von Unterdrückung, Gewalt und Instabilität zu durchbrechen. Der Stabilitätspakt, der im Juli 1999 in Sarajevo von Regierungsvertretern aus über 30 Ländern und zahlreichen internationalen Institutionen wie Nato, UN und IWF bestätigt wurde, richtet sich im Wesentlichen an die Länder Kroatien, Bosnien-Herzegowina, Bulgarien, Albanien, Makedonien, Rumänien und Slowenien. Die Geberländer wollen das nötige Geld bereit stellen, um die Wirtschaft anzukurbeln und eine Zollunion zu schaffen. Im Gegenzug verpflichten sich die Nehmerländer zur Durchführung freier Wahlen, Zulassung unabhängiger Medien, Rechtsstaatlichkeit, Transparenz und Liberalisierung der Wirtschaft.
Der Westen und die USA wendeten in den letzten zehn Jahren schätzungsweise 150 Milliarden US-Dollar auf, um Konflikte zu befrieden, Truppen aufzustellen und Flüchtlinge aufzunehmen. Es wird sich zeigen, wie viel der Westen für Konfliktvermeidung noch zu zahlen bereit ist. Am 29./30. März wird nun in Brüssel die Geberkonferenz tagen. Das wird „der Moment der Wahrheit“ sagt Bodo Hombach, Sonderkoordinator für den Stabilitätspakt.
Derweil rührt sich – wie schon beim Gipfel im Juli 1999 in Sarajevo – Kritik. Dem Sonderkoordinator fehlen Mittel, die Strukturen sind zu kompliziert, die Zahlungsmoral der Geberländer lässt zu wünschen übrig. Und besonders in den Zielländern Exjugoslawiens wird der Erfolg des Paktes bezweifelt. „Kultur, interkultureller Austausch, Solidarität und Kreativität werden in keinem dieser Dokumente erwähnt“, fasst Dimitrije Vujadinović die Kritik vieler Künstler und Intellektueller in Exjugoslawien zusammen. „Ohne alle diese Dinge wird es weder Frieden noch Demokratie auf dem Balkan geben.“ Dimitrije Vujadinović ist Koordinator von ERICArts, einem europäischen Institut für vergleichende Kulturforschung in Bonn. Als Leiter von „Blue Dragon“ in Sremski Karlovci erstellte er eine Bestandsaufnahme der Kulturinstitutionen in der Bundesrepublik Jugoslawien, in der alle Kulturzentren, Bibliotheken, Theater usw. verzeichnet sind. „Die Konsequenzen der vergangenen Geschehnisse sind enorm, besonders für die Kultur“, ist sein Ergebnis – milde ausgedrückt.
In allen postjugoslawischen Staaten, mit Ausnahme Sloweniens, folgte dem gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Niedergang der kulturelle. Der Staat hat kein Interesse, unabhängige Kulturinstitutionen zu fördern. Die Bevölkerung ist verarmt, die Mittelklasse weitgehend verschwunden. Das Profil der neuen Gesellschaften besteht aus drei bis fünf Prozent Neureichen, während die Masse der Bevölkerung in Armut lebt.
Serbien spielt bei der Geberkonferenz eine besondere Rolle. Solange das „politische Problem“ Milošević nicht gelöst ist, bleibt das Land vom Stabilitätspakt ausgeschlossen. Langfristig richtet sich das Angebot zwar auch an Serbien: Die Bürger Serbiens werden aufgefordert, sich den „demokratischen Wechsel“ zu Eigen zu machen. Doch wie bei den Demonstrationen 1996 bleibt die demokratische Bewegung in Serbien weitestgehend ohne Unterstützung – Serbien und Montenegro liegen auch heute weder in Europa noch in Südosteuropa. Und die Türen zu internationalen Organisationen, auch im kulturellen Bereich, sind weitgehend verschlossen.
„Die Kulturveranstaltungen sind rappelvoll“, berichtet Dr. Herwig Kempf, Leiter des Belgrader Goethe-Instituts. „Künstler treten kostenlos oder nur für ein Überlebenshonorar auf. Kultur ist durchaus sichtbar in der Stadt. Aber seit den Sanktionen und dem Zusammenbruch des alten Jugoslawien ist dieser Kulturbetrieb deutlich enger, um nicht zu sagen: provinzieller geworden.“
Der Westen hatte es den Machthabern in Belgrad leicht gemacht. Die UN-Resolution 757, die 1992 in Kraft trat, untersagte allen ausländischen Kulturinitiativen die Zusammenarbeit mit Bundesinstitutionen in Jugoslawien. Der Dialog mit Universitäten oder Museen musste abgebrochen werden. Auf diese Weise hatte der Westen damals einen Teil der Zensurarbeit des Regimes übernommen.
Abgeschottet vom Rest der Welt kann die serbische Regierung ihr kulturelles Modell der Mythen und Verschwörungstheorien pflegen. Heldensagen, Gedichte oder Liederzyklen um die Schlachten gegen die Türken, „Kriegsfolklore“, wie der Belgrader Ethnologe Ivan Colović es bezeichnet hat, prägten schon 1989 massiv die Inszenierung der 600-Jahr-Feier zur Schlacht auf dem Amselfeld. Daran haben sich seinerzeit auch viele Intellektuelle und Künstler beteiligt. Dennoch ist es das Anliegen der großen Mehrheit der Bibliotheken, Theater, Museen, Autoren, Maler oder Musiker, kulturelle Vielfalt zu verbreiten, das Bewusstsein für andere Kulturen zu öffnen und grenzübergreifend zusammenzuarbeiten.
In das Theater, das für die Machthaber ein bedeutungsloses Nischenphänomen und deshalb von der Zensur weitgehend unbehelligt bleibt, strömen vor allem die junge Leute. Im Belgrader Atelje 212 ging Ende des vergangenen Jahres das Theaterstück „Familiengeschichten. Belgrad“ von Biljana Srbljanović in die dritte Spielzeit. Konsequent transportiert Srbljanović die herrschenden Verhältnisse in Serbien in den Rahmen der Familie: Der Vater denunziert die Mutter beim Arbeitgeber. Den Sohn schlägt er mit einem Gürtel, um ihn zu lehren, dass ein Mann nie sagt, was er wirklich denkt. Die Mutter schreibt faschistische Lyrik. Der Sohn, der gerade von einer Demonstration gegen das Regime kommt, quält den Hund. Und am Ende jeder Szene, jeder „Familiengeschichte“, töten die Kinder ihre Eltern. Der ganze Krieg im Wohnzimmer als Spiegel der Gesellschaft: schmerzhafte, aber wichtige Aufarbeitung der Vergangenheit und Reflexion aktuellen Geschehens.
Doch die renommierten kulturellen Institutionen von einst fürchten um ihre Existenz: das internationale Filmfestival „Fest“, das internationale Theaterfestival „Bitef“ und das Sommerfestival „Belef“. Es fehlt nicht nur an finanziellen Mitteln, sondern auch am Austausch mit anderen Ländern. Das beste Beispiel für die schwierige Situation, in der sich jugoslawische Kulturinstitutionen befinden, ist die National-Bibliothek in Nis. Um den Standard aufrechtzuerhalten, müsste der Buchbestand jährlich um fünf Prozent Neuanschaffungen ergänzt werden; dazu müssten jedes Jahr 12.500 neue Bücher angeschafft werden. Der Bibliothek fehlt nicht mal das Geld; das Problem ist, dass jährlich höchstens 5.000 geeignete neue Bücher verlegt werden.
Der demokratische Prozess in Serbien soll unterstützt werden, sagen die Geberländer und meinen die Unterstützung für die Oppositionsparteien, für unabhängige Medien und für die oppositionsregierten Städte. Das ist gut gemeint, erweist sich aber in der Praxis als überaus schwierig. Welche demokratische Opposition soll unterstützt werden? Etwa Vuk Drašcović, der sich 1992 im Falle der Sezession Bosniens und Kroatiens öffentlich für den Krieg aussprach und vor nicht langer Zeit in der Regierung Milošević seinen Platz hatte?
Auch in vielen Orten Bosniens beherrschen nach wie vor Ethnozentrismus und Nationalismus die Politik. Nur die Präsenz der internationalen Gemeinschaft und die faktische Machtlosigkeit der bosnischen Politiker verhindern die gröbsten Auswüchse dieser Politik. Die Schwierigkeiten bei der Repatriierung von bosnischen Kriegsflüchtlingen sind das beste Beispiel. Und auch in Kroatien konnte zu Zeiten Tudjmans von Freiheit der Medien keine Rede sein, Wahlfälschung gehörte zu den politischen Mitteln des herrschenden Regimes. Kroatien wurde dennoch nie wie Serbien so von Europa ausgegrenzt. Anfang des Jahres errang die demokratische Opposition einen überragenden Wahlsieg, was zeigt, dass durch Austausch mehr erreicht wird als mit Ausgrenzung und Isolation. Auch in Bosnien muss sich der Wiederaufbau parallel mit dem demokratischen Wandel vollziehen, um nationalistischen Kräften die Grundlage zu entziehen.
Grenzübergreifende kulturelle Zusammenarbeit ist entscheidend für Vertrauen zwischen Völkern und Kulturen. Aus diesem Grund wurde im Dezember 1999 in Sarajevo auf dem Kongress „Wiederaufbau kultureller Produktivität auf dem Balkan“ gefordert, dass Kultur im Stabilitätspakt für Südosteuropa berücksichtigt und gleichzeitig konkrete Projekte initiiert werden müssen. Aus dem Büro des Sonderkoordinators kam bislang keine Reaktion.
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