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„Georgien ist total pleite“

Strom ist selten, Lohn wird nicht gezahlt, Luxusautos gibt es viele: Schewardnadses Politik ist keine Erfolgsgeschichte

aus Tiflis JÜRGEN GOTTSCHLICH

Von oben, aus dem 11. Stock des Geophysikalischen Instituts, sieht Tiflis immer noch gut aus. Im Tal der Kura liegend, macht die Stadt, die schon zur Zarenzeit das kulturelle Zentrum der gesamten Region war, immer noch einen malerischen Eindruck. Die Altstadt ist nicht durch sowjetische Wohnblöcke zerstört worden, ein großer Teil der georgischen Kirchen, armenischen Gotteshäuser und selbst einige Synagogen haben die 70 Jahre Atheismus überlebt und prägen nach wie vor das alte Zentrum. Man darf Tiflis nur nicht zu nahe kommen. Von Angesicht zu Angesicht ist der Verfall unübersehbar. Auch das Institut hat schon bessere Tage gesehen. Autowracks vor dem Eingang, verdreckte Flure und ein Aufzug, dessen Benutzung als georgisches Roulette begriffen wird. Strom ist in Tiflis Glückssache, deshalb geht man auch in den 11. Stock lieber zu Fuß.

„Georgien“, sagt David Darchiashwili, „befindet sich mitten in einem breiten Strom. Das eine Ufer ist der rettende Westen, Demokratie, Marktwirtschaft, am anderen Ufer warten der Totalitarismus und die Kommandowirtschaft. Georgien treibt dazwischen, doch das kann nicht so weitergehen. Stagnation bedeutet letztlich Rückschritt.“

Hungernde Soldaten desertieren

David Darchiashwili, im renommierten unabhängigen Kaukasischen Institut für Demokratie und Entwicklung zuständig für die Außen- und Sicherheitspolitik, schaut, als wäre er insgeheim davon überzeugt, dass sich das Land längst auf dem Weg zurück in die Finsternis befindet. Eine der wenigen Meldungen, die in jüngster Zeit von internationalen Agenturen über Georgien verbreitet wurde, war, dass fast 50 Soldaten desertierten, weil sie tagelang nichts zu essen bekamen. „Das passiert dauernd“, sagt David. „Das Geld wird von den hohen Chargen veruntreut. Die Soldaten haben nichts zu essen, und die Generäle fahren mit West-Luxusautos durch die Gegend.“

Die Situation in der Armee ist keine Ausnahme, sondern spiegelt die Normalität eines Landes, das seit knapp 10 Jahren unabhängig ist. Die Millionenstadt Tiflis muss den größten Teil des Tages und oft auch am Abend ohne Strom auskommen, die früher zentrale Heizung der Häuser funktioniert seit Jahren nicht mehr, die Arbeitslosigkeit ist so hoch, dass sie statistisch gar nicht erst erfasst wird, und die wenigen Leute, die einen Job im Staatsdienst haben, erhalten ihren kargen Lohn von umgerechnet rund 200 Mark oft erst mit monatelanger Verspätung. „Georgien“, das räumt selbst Levan Nizharadze, Chef der Europa-Abteilung im Außenministerium, ein, „ist total pleite.“ Das Land hängt am Tropf internationaler Hilfsgelder, ohne die Georgien die letzten zehn Jahre gar nicht überlebt hätte. Entsprechend enthusiatisch wird der deutsche Bundeskanzler in Tiflis begrüßt. „Ein historisches Ereignis“ sei der Besuch Gerhard Schröders, meint Nizharadze, „der ranghöchste Besucher aus der EU seit der Unabhängigkeit“.

Die Freude ist aufrichtig, denn der Kanzler bringt rund 50 Millionen Mark an Krediten und neuen Projektzusagen mit. Deutschland ist einer der größten Geldgeber für Georgien, aber auch die EU insgesamt ist in dem Südkaukasus-Staat stark engagiert. Das hat zwei Gründe:

Der eine davon heißt Eduard Schewardnadse, Präsident Georgiens, in Deutschland aber besser bekannt als letzter sowjetischer Außenminister, der im Gespann mit Gorbatschow dafür sorgte, dass die Sowjetunion sich ohne einen großen Knall aus der Geschichte verabschiedete. Solche Erinnerung verpflichtet, und seit Schewardnadse nach einem blutigen Bürgerkrieg 1995 in Georgien das Steuer wieder in die Hand nahm, garantieren seine alten Freunde im Westen, dass Geld fließt. Zusammen mit Schröder reist deshalb auch Ex-Außenminister Hans-Dietrich Genscher nach Georgien und bekommt von Schewardnadse den höchsten Orden des Landes umgehängt.

Der wichtigere Grund für die Dollarmillionen, die Jahr für Jahr nach Tiflis fließen, ist aber die geografische Lage des Landes. Zusammen mit Armenien und Aserbaidschan bildet Georgien die Brücke zwischen Europa und Zentralasien; durch Georgien sollen das Öl und Gas, das die westlichen Konzerne im Kaspischen Meer und den Steppen Kasachstans fördern wollen, in die Türkei und nach Westeuropa gebracht werden.

Für den Westen garantiert Eduard Schewardnadse in dem nach wie vor zerrissenen Kaukasusstaat ein Mindestmaß an Stabilität, ohne die Georgien als Pipeline-Transitland undenkbar wäre. Deshalb soll der Besuch Schröders Schewardnadse auch im Wahlkampf unterstützen – am 9. April will er als Präsident wiedergewählt werden. Seit 1994 sind bereits drei Attentate auf ihn verübt worden, das letzte überlebte er nur Dank des gepanzerten Mercedes, den ihm Klaus Kinkel zur Verfügung gestellt hatte.

Drei Daimler in der Garage

Heute stehen bereits drei der Ungetüme in Schewardnadses Garage, damit, um potenzielle Attentäter zu verwirren, immer ein leeres Auto über eine Alternativroute gefahren werden kann. Doch trotz aller Unterstützung aus dem Westen ist Schewardnadses Georgien für den größten Teil der Bevölkerung keine Erfolgsgeschichte. Zwar konnte er den Bürgerkrieg beenden, aber ökonomisch geht es nicht voran. Obwohl in den letzten Jahren so viel Geld nach Georgien gepumpt wurde, dass jeder der 5 Millionen Georgier längst mehrfacher Dollarmillionär sein könnte, versickert die Hilfe in dunklen Kanälen, ohne im Land viel zu verändern. Die Korruption ist enorm, die Mercedes-Dichte in Tiflis erstaunlich.

„Seit zwei Jahren herrscht hier lähmende Stagnation“, meint David Darchiashwili frustriert. „Nach den Wahlen“, wenn Schewardnadse erwartungsgemäß im Amt bestätigt ist, „hat er die letzte Chance, die notwendigen Reformen in Georgien durchzusetzen.“ Sonst drohe der Rückfall in vordemokratische Zeiten und im schlimmsten Fall der Verlust der Unabhängigkeit.

„Das wird so schnell nicht passieren“, macht sich zwar Herr Nizharadze Mut, „aber wir müssen uns trotzdem beeilen.“ Tatsächlich liegen alle brisanten Konflikte Georgiens auf Eis, ohne dass ein Politiker daran ernsthaft rühren würde. Auch die Einheit des Landes ist noch nicht gesichert. Abchasien, der schönste Küstenstreifen Georgiens, zu Sowjetzeiten autonome Region, ist seit dem Bürgergkrieg de facto abgetrennt und wird von russischen Friedenstruppen kontrolliert. Gespannt wartet man nun, wie der neue russische Präsident Putin im Kaukasus weiter vorgeht. „Ohne Russland kann es auch in Georgien keinen echten Frieden geben“, räumt Levan Nizharadze aus dem Außenministerium ein. Doch trotz der Angst vor dem neuen Zaren, die in Georgien umgeht, hat man in Tiflis auch große Hoffnungen. „Putin“, sagt Nizharadze, „hat gelernt, dass das Schüren enthnischer Konflikte im Kaukasus Russland letztlich nur schadet. Russland wird mit Putin eine konstruktivere Rolle spielen als in den letzten Jahren.“

Für die Menschen in Tiflis kann man nur hoffen, dass Nizharadze Recht hat. Der westliche Traum erschöpft sich für den normalen Georgier bislang darin, in einer der Wechselstuben der Stadt ein paar Dollar zu tauschen. Die harte Realität besteht dagegen im Warten auf Strom, weil Russland nicht genug Gas liefert, um auf dem Rustaveli-Boulevard in Tiflis die Lichter brennen zu lassen.

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