: Ende einer Gastfreundschaft
Ardiana Shabani hat gelernt, wo der Harz liegt. Umsonst. Isuf Maxharraj müsste operiert werden. Zu teuer. Plötzlich sind sie „die Asylanten“
aus Kunersdorf HEIKE HAARHOFF
Die 5b hat beim Geographietest nicht eben geglänzt. Jetzt wird mit Hilfe der ausgerollten Deutschlandkarte wiederholt. Welches ist das nördlichste deutsche Mittelgebirge? Richtig, der Harz. Wie heißt der höchste Berg? Zugspitze. Na also. Wo entspringt der Rhein? Da, wo die Landkarte glücklicherweise aufhört, mitten in der Schweiz. So drohen der 5b zumindest keine schwierigen Fragen über Orte, die südlich der Alpen liegen. Welche ihre Mitschülerin Ardiana Shabani, 11, nächste oder übernächste Woche in der Kleinstadt Bakshi im Kosovo erwarten dürften.
Verlassene Gehöfte, abblätternde Fassaden, schnurgerade Alleen – Brandenburg zwischen Berlin und Frankfurt/Oder eben. Dann, endlich, das Ortseingangsschild von Kunersdorf. Hier müsse man rechts abbiegen, um zu ihr nach Hause zu kommen, hatte Ardiana vorhin in der Schule gesagt. Doch an der Abzweigung in den holprigen Waldweg gibt es nur den Hinweis: „Kriegsgräberstätte“. 200 Meter hinter dem Soldatenfriedhof taucht auf der Kuppe eines Hügels das „Zuhause“ auf. Mehrere Dutzend Baracken und Wohncontainer auf grüner Wiese hinter hohem Zaun; auf dem vergitterten Eingangstor rankt Nato-Draht, dahinter hockt das Pförtnerhäuschen mit fünf Überwachungsbildschirmen.
Eine Wohnform, die außer Unwohlsein wenig vermittelt
Nach den Angriffen und Hetzjagden der vergangenen Monate auf Ausländer in Brandenburg müssen Flüchtlinge besonders geschützt werden, argumentiert die Landesregierung. Das ist richtig. Richtig ist auch: Je kürzer der Aufenthalt, desto geringer die Gefahr eines Überfalls. Eine Wohnform, die außer Unwohlsein wenig vermittelt, kann dieses Ziel erreichen helfen. 100 der 148 Kriegsflüchtlinge aus dem Kosovo haben Kunersdorf schon Wochen vor dem Ende ihres legalen Aufenthalts am 1. April verlassen; „freiwillig“, wie in den Akten der Ausländerbehörden nachzulesen sein wird.
Freut sie sich? Hat sie Angst? Woran erinnert sie sich? Wie bereitet sie sich auf den Abschied vor? Was eigentlich darf man ein elfjähriges Mädchen mit fröhlich rosa lackierten Fingernägeln fragen, das mit seiner Familie vor Verfolgung und Krieg geflohen ist und nun in ein zerstörtes Land zurückgezwungen wird?
„Ja, ich habe Angst“, antwortet Ardiana da, und wie sie es sagt, wird deutlich, dass man ihr zu nahe getreten ist. „Wir müssen bestimmt wieder fliegen, ich bin vor einem Jahr zum ersten Mal geflogen, und als das Flugzeug runterging, hatte ich Angst, dass es die Dächer der Häuser abreißt.“ Und dann Laura, ihre beste Freundin aus Kunersdorf. Die kann immer noch kein Lied auf Albanisch singen. Unvermittelt wechselt Ardiana das Thema. Erzählt ungefragt und mit einer Miene, als referiere sie den Roman eines fremden Autors, von dem Tag, als die Polizei zu ihnen nach Hause kam, die Knarre auf die Mutter richtete und brüllte, sie hätten fünf Minuten zum Packen. Vier Koffer hat die Mutter geschafft; drei davon hat sie später im Übergangslager in Makedonien lassen müssen, aber immerhin gelang es ihr, über Handy die Verwandten zu benachrichtigen, sodass die Familie gemeinsam fliehen konnte.
Rita Krebs wurde 1945 in der alten Schnapsbrennerei in Lüdersdorf geboren. Ihr Leben, Wochenenden und Ferien ausgenommen, hat sie in den Zimmern des Nachbargebäudes verbracht: erst als Schülerin, ab 1970 dann als Lehrerin, seit ein paar Monaten als Leiterin der Grundschule, 174 Kinder der Stufen eins bis sechs. „Ausländerintegration, das kannten wir ja gar nicht“, sagt Rita Krebs.
Bis 1991, ein Jahr nach der Wende, im Nachbarort Kunersdorf eines der ersten Asylbewerberheime Brandenburgs eröffnet wurde. Die umliegenden Schulen überboten einander an Ausflüchten. Rita Krebs nicht. Sie klopft sich auf die Brust: „Das kam einfach von hier drinnen.“ Seitdem verkehrt der Schulbus zwischen Kunersdorf und Lüdersdorf regelmäßig.
Im April vor einem Jahr bat das Land Brandenburg Kunersdorf, 1.200 Einwohner, 200 Asylbewerber, um Aufnahme von zusätzlich 148 Kosovaren. Sie waren vor mordenden Serben und Bomben der Nato ausgeflogen worden. Hartmut Weidner, der Leiter des Asylbewerberheims, ließ ein paar triste Container anbauen. „Leider“, sagt er heute, „wir haben nicht Hurra geschrien, als sie uns die Leute übergestülpt haben“, und von den 180.000 Mark Investitionen für den Ausbau, mit denen er sich verschuldet habe, hätten ihm Land und Bund bislang nichts zurückgezahlt.
Auch Rita Krebs sagte spontan zu, auf ihre Art. Überstunden erwähnt sie nicht, Fachvokabeln wie Krisenintervention oder Traumatisierten-Therapie sind ihr bis heute fremd geblieben. Sie weiß auch so: „Das Wichtigste ist, dass die Kinder vergessen, was sie erlebt haben.“ Dass sie sich in der neuen Umgebung heimisch fühlen. Dass sie Deutsch lernen und Freunde finden. Dass dies im ganz normalen Klassenverband, im ganz normalen Sportunterricht, bei ganz normalen Raufereien oder Festen gelingt. Und dass man es ihnen niemals schwer machen darf. Auch dann nicht, wenn die Innenminister aus 16 Bundesländern nach Kriegsende das jähe Ende der Gastfreundschaft beschließen und jedem mit Rausschmiss in Handschellen drohen, der nach dem 1. April nicht freiwillig ins kriegszerstörte Kosovo zurückkehrt. Auch dann nicht, wenn einem selbst zum Heulen ist. „Ich Libe Frau Krips. ich muss gehen na Hause. çüs Krips“ hat die kleine Valbona ihrer Lehrerin vorige Woche zum Abschied geschrieben.
Ardiana Shabani wird ihren Brief vermutlich in den nächsten Tagen abgeben. Ihr Vater würde die Abreise gern noch ein wenig hinauszögern. Dass die Familie zurück will, darüber besteht Einigkeit. Aber Ardianas kleiner Bruder hat Asthma. Über die medizinische Versorgung in Bakshi, wohin die Shabanis zurückkehren wollen, weiß der Vater nichts. Doch die Ausländerbehörde hat sich bislang nicht geäußert, ob die Duldung über den 15. April hinaus verlängert wird.
Gepackt haben die Shabanisnoch nichts. Was auch?
Gepackt haben die Shabanis noch nichts. Was auch? Pro Person sind zwanzig Kilo Reisegepäck plus fünf Kilo Handgepäck erlaubt. Und bei den Nachbarn, die schon abgereist sind, hat man gesehen, wie schnell so eine Flüchtlingsunterkunft geräumt ist. Kaufen konnten sie im vergangenen Jahr ohnehin nichts, was sich jetzt mitzunehmen lohnte: Die 310 Mark pro Monat, die jeder Erwachsene zum Lebensunterhalt bekam, wurden in Lebensmittelgutscheinen ausgezahlt. Einzulösen bei Aldi oder Minimal, „Alkohol kriegen sie dafür natürlich nicht“, bescheidet die Frau an der Kasse. Und das Taschengeld, das in bar ausgezahlt wurde, 80 Mark, floss zu den Verwandten ins Kosovo. Das bewog wohl auch den Leiter der dortigen UN-Zivilverwaltung, Tom Koenigs, zu warnen, eine wichtige finanzielle Säule des Wiederaufbaus breche weg, wenn die Flüchtlinge aus Deutschland jetzt schon zurückkehrten.
Das Asylbewerberheim auf dem Kunersdorfer Hügel hatte in den vergangenen zwölf Monaten oft Besuch. Anfangs kam sogar die Bürgermeisterin, manchmal zweimal die Woche. Das Mitleid war groß, das Spendenaufkommen zumindest enorm. Solange Krieg war jedenfalls. „Zuvor war die Stimmung häufig gegen die Kosovo-Albaner gerichtet“, sagt Judith Gleitze vom Flüchtlingsrat Brandenburg. „Aber als viele schreckliche Bilder über den Bildschirm kamen, waren sie plötzlich die Guten.“ Vorübergehend jedenfalls. Für Ardiana und ihre Spielkameraden war jeder Besuch damals Bescherung, ihre Mütter hätten Modenschauen veranstalten können, und ihre Väter wurden willkommen geheißen wie Staatsmänner, wenn sie barfuß und mit Plastiktüten nach Deutschland einreisten. „Manchmal hatte ich das Gefühl, die Deutschen wollten damit ihre Kriegsbeteiligung rechtfertigen“, sagt der Pförtner vom Heim.
Der CDU-Politiker Jörg Schönbohm kam als einer der ersten zu Besuch nach Kunersdorf. Kurze Zeit später wurde in Brandenburg ein neuer Landtag gewählt. Schönbohm ist seitdem Innenminister und erklärte bald: „Es war allen Beteiligten klar, dass dieser kollektive Akt praktizierter Humanität lediglich zeitlich befristet werden soll.“
Vielleicht war das die Wende. Vielleicht war es auch bloß die Enttäuschung darüber, dass die eigene Mildtätigkeit keine spürbaren Vorteile nach sich zog. Fest steht: Aus bemitleidenswerten „Kriegsflüchtlingen“ sind gewöhnliche „Asylanten“ geworden, denen man in Kunersdorf wie anderswo mit Misstrauen, bestenfalls mit Gleichgültigkeit begegnet. Am einzigen Krämerladen im Ort, den sie hier „Getränkestützpunkt“ nennen, ist von Einbrüchen die Rede und Ferkeln, die geschlachtet wurden, kaum dass sie aus ihren Ställen gestohlen worden waren. „Das waren die von da oben“, sagt eine ältere Frau mit Kopftuch und kariertem Rock und zeigt auf den Hügel hinter dem Friedhof. Ob die Kosovo-Albaner beteiligt waren, wisse man freilich nicht mit Bestimmtheit; „eigentlich“, sagt die Frau, „haben die uns nie belästigt“.
Aus Kriegsflüchtlingen wurden wieder Asylanten
Die Vorurteile in der Bevölkerung sind das eine, „und sicher nicht die Regel, eigentlich ist die Akzeptanz hoch“, sagt Heimleiter Hartmut Weidner. „Viel schlimmer“, urteilt er, „sind die politischen Versprechungen, die nicht gehalten wurden.“ Seien Krankenscheine und andere behördliche Formulare den Kriegsflüchtlingen anfangs noch nach Kunersdorf gebracht worden, so müssten die Kosovo-Albaner jetzt auf kompliziertem Weg in 20 Kilometer weit entfernte Städte anreisen, um bürokratische Dinge zu regeln. Begriffe wie Zumutbarkeit und Rücksichtnahme werden neu definiert. Im brandenburgischen Wittenberge wird derzeit diskutiert, ob die Kriegsflüchtlinge auf ihre letzten Tage in Deutschland noch einmal umziehen sollen – aus Kostengründen.
Isuf Maxharraj, 66, leidet unter einem Wasserbruch, einer schmerzhaften Flüssigkeitsansammlung in den Hodenhüllen; er muss operiert werden, drei Tage Krankenhaus, kein großer Eingriff. Gerade hat Isuf Maxharraj Post bekommen. Ardiana übersetzt: Der Landrat des Landkreises Märkisch-Oderland bedauert, die Kosten für die Operation nicht übernehmen zu können. Schließlich ist seine Krankheit nicht lebensbedrohlich.
Isuf Maxharraj zieht einen zweiten Umschlag hervor. Darin: Fotos von einem Baugerippe, das Innere ausgebrannt oder geplündert, selbst die Fensterrahmen fehlen. „Mein Haus“, sagt Isuf Maxharraj. Ein Freund, der bereits zurückgekehrt ist, hat ihm die Aufnahmen geschickt. „Das muss ich jetzt abreißen und neu bauen“, sagt er. Unbeeindruckt.
Ardiana muss noch Hausaufgaben machen. Die Frage lautet: Was ist eine Lawine?
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