: Mitten ins Herz von St. Pauli
Es schlägt am Spielbudenplatz 7. Schon seit 40 Jahren. In der Kneipe von Erika Klüver. Nur montags nicht, da ist Ruhetag ■ Von Astrid Heissen
An und aus. Alle drei Sekunden blinkt das knallrote Neonherz über der Tür. An Hamburgs Reeperbahn, am Spielbudenplatz 7, wo sich die Jungen Bier an der „Esso“-Tankstelle kaufen und die Alten schick angezogen ins Operettenhaus gehen, schlägt es: das „Herz von St. Pauli.“ Gleichmäßig, die ganze Nacht. Bloß montags nicht, da ist Ruhetag.
Hinter der Tür, hinter den weißen Spitzengardinen, riecht es nach Bratkartoffeln, Buletten und Bier. An den Wänden mannshohe dunkle Holzvertäfelung, Porzellanteller, bunte Wimpel und ein großes Ölbild vom Albers-Hans. Auf den blank gescheuerten Tischen liegen weinrote Häkeldeckchen. Ein biss-chen wie in Omas guter Stube.
In diesen vier Wänden liegt das Reich von Erika Klüver. Seit 40 Jahren steht sie hinter dem polierten Zapfhahn. Oft bis morgens um drei. Von den 450 Wirten auf St. Pauli hat die 75-Jährige in der hochgeschlossenen Bluse die meis-ten Dienstjahre auf dem Buckel. „Eigentlich wollte ich das ja nie, eine Kneipe an der Reeperbahn“, sagts und schüttelt die braunen Löckchen. „Aber mein Mann war ja wie verhext. Der sagte, lass' mich man den Laden einrichten und dann guckst du dir das erst Mal an. Da hat unsere Ehe ganz schön gewackelt.“ Schließlich guckte Erika und war einverstanden.
Wenn Erika von ihrem Mann spricht, blitzen ihre grünen Augen und sie lächelt stolz: „Hein war Sänger. So richtig mit Gitarre und Seemannsmütze.“ Mit Hans Albers hat er in dem Film „Das Herz von St. Pauli“ vor der Kamera gestanden. Nach Ende der Dreharbeiten 1960 marschierte der blonde Hein zum Amt und ließ sich den Titel „Das Herz von St. Pauli“ für sein Lokal schützen. „Kein anderer darf den Namen heute verwenden. Nur wir“, betont Erika und zündet sich eine Stuyvesant an. Über die Zeit nach dem Tod ihres Mannes, als sie mit drei Kindern und einem Berg von Schulden da stand, redet sie nicht viel: „Am Anfang war es schlimm. Aber man lernt ja dazu.“
Sie bläst den Rauch in die Luft und öffnet ein abgeschlossenes Schränkchen hinter dem Tresen. Dort stehen die Gästebücher. Aus einem grünen Fotoalbum fällt ein schwarz umrandetes Papier heraus: die Einlasskarte zur Beerdigung von Hans Albers. Das war 1960. „An dem Tag kam die thailändische Königin Sirikit nach Hamburg. Am Flughafen waren 1000 Leute, um sie zu begrüßen. Aber bei Hans auf dem Ohlsdorfer Friedhof standen 5000 Mann“, erinnert sich Erika.
Die Zahl der Berühmtheiten, die im „Herz“ schon getrunken haben, ist groß. Erika hat sie alle im Fotoalbum eingeklebt: Anneliese Rothenberger, Freddy Quinn, Heinz Reincke. Kurz vor Weihnachten hat Ottfried Fischer hier gedreht. Für Udo Lindenberg steht immer ein kühler Schampus bereit, „auch wenn der nie Trinkgeld gibt“, wie Erikas Sohn Klaus bemerkt. Der stämmige Klaus im braunen Holzfällerhemd ist Erikas Nachfolger. Alles schon vertraglich geregelt. Jeden Abend sitzt er an der Ecke des Tresens unter dem verstaubten Kugelfisch und sortiert seine Musikcassetten. Dabei linst er immer wieder durch die Brille auf die Eingangstür. „Ein büschen muss man hier schon aufpassen, dass nich' die falschen Leute reinkommen“, sagt er und legt nochmal „La Paloma“ in den Rekorder ohne Deckel. Eine Schlägerei hat's bisher noch nicht gegeben. Toi, toi, toi – Erika klopft mit knöcherigen Fingern auf den Holztresen. Ihr „Herz“ kommt ohne Zuhälter und Prostituierte aus.
Wenn einer sich daneben benimmt, muss man freundlich bleiben. „Den jagen wir mit 'nem frischen Wind wieder vor die Tür“, schmunzelt Erika und zupft ihrem Sohn einen Faden vom Hemd. Bloß einmal hat's geknallt. Das ist schon Jahre her. Da flog eine Kugel durch die Scheibe. „Das Projektil haben wir bis heute nicht gefunden“, erzählt Klaus und deutet mit seinen breiten Händen auf den schwarz gekachelten Boden, der an vielen Stellen schon ganz hell ist. Aber sonst ist alles friedlich. „Weil“, findet Klaus, „St. Pauli ist ein Stadtteil, der reinigt sich von selbst.“
Meist fallen Reisegruppen aus ganz Deutschland in das Lokal ein. Dann hat Erika viel zu tun. Auf der Speisekarte steht die Wurstplatte, die bereitet sie ganz allein für die Gäste vor. Eine Küchenhilfe braucht sie nicht. „Alles eine Sache der Planung. Ich hab' ja vier Kühlschränke“, sagt sie. In ihr Allerheiligstes, die Küche hinter dem Tresen, lässt sie keinen rein. An der Tür hängen zwei rot-weiß karierte Geschirrtücher. Daneben der Titel eines Zeitungsausschnitts: „Alle lieben Erika.“
Wenn's am Wochenende voll wird, hilft Biggi. Die resolute 59jährige wohnt gleich um die Ecke: „Ich muss nur drei Mal lang hin fallen, dann bin ich zu Hause.“ Mit schwarzen Pantoffeln marschiert sie durch die Tischreihen und rechnet blitzschnell im Kopf die Zeche zusammen. „Früher war ich als Gast hier, dann habe ich irgendwann mit dem Kellnern angefangen.“ Warum? „Nu, die Atmosphäre hier ist schon was Besonderes. Aber wir sind ja auch alles was Besonderes. Jeder für sich eben. Ne Familie sozusagen.“
Freitags und samstags gehört auch Günter dazu. Mit dem perlmuttfarbenen Akkordeon genießt er seinen großen Auftritt. Früher hat der Charmeur mit den weißen Haaren als Lagerarbeiter im Hamburger Hafen gearbeitet. Dann, „als die Computer und der ganze Technik-Kram kam“, ging er in Rente. Sein Stammplatz ist vor dem Tresen. Auf dem Hocker liegt ein dickes Wollkissen, daneben die blaue Schiffermütze fürs Kleingeld. Seit sechs Jahren singt Günter an den Wochenenden „alles, was die Gäste hören wollen.“ Am liebsten „Aloha-he“. Da kommt sein 10.000 Mark teures Akkordeon am Besten zum Klingen.
Günter nimmt noch einen Schluck Astra, wischt sich Mund und Stirn mit einem weißen Handtuch „und los geht die musikalische Reise über'n Kiez.“ Wenn er dann noch singt „Das Herz von St. Pauli, das ist meine Heimat, in Hamburg da bin ich zu Haus“ spitzt sich Erika Klüvers herzförmiger Mund, so, als wolle sie gleich mitpfeifen. Inzwischen hat sie einen ihrer Stammgäste bedient. Mike kommt seit Jahren abends auf ein Bier und einen „Haus-Diesel“, Erikas süßem Spezial-Whiskey. „Wie war dein Tag?“ fragt sie und wischt mit dem Bierdeckel ein paar Krümel vom Tresen. „Hör' bloß auf“, winkt Mike ab. Er schaut raus auf den Bürgersteig. Da blinkt das knallrote Neonherz, gleichmäßig im immergleichen Takt.
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