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Was ist denn, Vera?

Blumenverkäuferin trifft Psychologiestudent. Kommunikative Desaster treffen auf einenHang zur Parodie, wenn es um Männer geht. Katrin Dorns Roman „Lügen und Schweigen“von ANGELIKA OHLAND

Heirate nie einen Psychologen! Gäbe es eine Moral von der Geschicht, dann wäre es wohl diese. Vincent, der sanfte Typ mit den großen Augen und dem allumfassenden Verständnis, macht einen rasend. Wie er schon fragt: „Was ist denn, Vera?“ Man hört sie regelrecht beim Lesen, seine weiche, eindringliche Stimme, und sieht, wie er beim Sprechen die Augenbrauen hochzieht. Und man möchte ihm eine knallen – mindestens auf jeder zehnten Seite einmal. Wobei die Hoffnung, dass Vincent davon aufwacht, nicht sehr groß ist.

Ist das nun also die Rache des Ostens am Westen? Ist es das, wovon man in Thüringen und Sachsen träumt: die Bananenwitze endlich mit Psychologenwitzen zu vergelten? Oder sehen die Ostler die Westler womöglich wirklich so: als labernde Weicheier, denen es zu gut geht, um irgendwas und wenigstens die eigene Freundin mal richtig anzupacken? Die Art und Weise, wie die Ostfrau – und studierte Psychologin – Katrin Dorn den prototypischen Westmann zeichnet, lässt jedenfalls einige Zweifel an dessen Attraktivität aufkommen, auch wenn man ihn sich durchaus als nice and handsome vorstellen darf.

Aber east meets west ist ja nur eine von mehreren Geschichten in Katrin Dorns zweitem Roman, „Lügen und Schweigen“, in dem Vera und Vincent exemplarisch die deutsch-deutsche Vereinigung vollziehen. Veras Kindheit und Jugend wird als weit reichende Rückblende inszeniert, die innerhalb des Romans eine eigene, abgeschlossene Erzählung bildet. Und die Figur der Vera lässt sich mühelos als therapeutische Fallgeschichte lesen, bei der Verdrängung zu Fühl- und Beziehungslosigkeit führt. Das große Metathema aber, in dem alle Stränge zusammenlaufen, ist die Kommunikationsunfähigkeit der in der Kommunikationsgesellschaft herangewachsenen Generation.

Womit man also wieder bei Vera und Vincent wäre. Die Blumenverkäuferin aus dem Osten, die sich heimlich ein Kind wünscht, und der Psychologiestudent mit Fabrikanteneltern, der schließlich sein Erbe ablehnt. Von Liebe mag man hier nicht so recht sprechen, die beiden mögen sich halt. Vincent hat die Beziehung zur therapiefreien Zone erklärt und will von Vera einfach gar nichts wissen, was erst recht merkwürdig ist. Vera aber mag nicht schweigen, weil man einander doch irgendwas erzählen muss – der Westen als Talkshow. Andererseits aber will sie nichts erzählen, weil sie eh niemand versteht, und deshalb lügt sie dann halt. Lügen und schweigen – das ist die Dialektik der Therapiegesellschaft, wie Katrin Dorn sie sieht.

Allerdings lassen sich die Lügen in diesem Roman auch mühelos dem verquasselten Westen zuordnen, während das Schweigen ganz dem Osten gehört. Geschwiegen hat Veras Vater, seit er nicht mehr über die Grenze kam, als das noch möglich war. Hat sich dann als Förster im Wald verkrochen und ab und an einen Stapel Teller zerschmissen – so verging Jahr um Jahr und schließlich das Leben. Geschwiegen hat die Mutter, als sei sie schuld am Mauerbau, geschwiegen hat Vera, als sie den Hund des Vaters aus dem Fenster schmiss. Als der Vater mit einem Gehirntumor und bereits blind im Sterben liegt, sagt die Mutter nur: „Das wird schon wieder.“ Aber nichts wird. Und Vera – Vera hält es nicht mehr aus. „Bald bist du in Australien“, verspricht sie ihrem Vater, der Australien immer für den Himmel, wenn auch nur den auf Erden, hielt.

Veras Familiengeschichte ist so etwas wie der neorealistische Kern des Romans. Anders als beim Vincent/Vera-Part fehlt hier jede Brechung und Distanz. Dorns „So war es“ lässt der Wahrnehmung und Auslegung keine Spielräume. Diese Geradlinigkeit spiegelt sich in der Chronologie wider, die große Teile der beiden Erzählstränge bestimmt. Anders als in vielen anderen Romanen der jungen deutschen Literatur, wo die Protagonisten quasi neben sich selbst stehen und ihr eigenes Leben wie einen Film anschauen, ist Vera tief verstrickt in ihre Vergangenheit, auch wenn sie das zunächst nicht wahrhaben will. Aber am Ende weiß Vera mehr über sich als zuvor, sie weiß ihr Lügen und ihr Schweigen zu deuten – der Charakter hat sich entwickelt.

In diesem trotz der Seitenhiebe auf die Psychoszene stark psychologisch motivierten Entwicklungsroman spielen die Dialoge erzähltechnisch eine Hauptrolle. Sie transportieren die Charakterzeichnung und treiben den Plot voran, auch dann, wenn sich alles im Kreise dreht. Wobei die Entwicklung der Figuren keineswegs eine bessere Kommunikation zur Folge hat. Der Fortschritt besteht allein darin, dass Vera das kommunikative Desaster nun wenigstens durchschaut.

Innerhalb der jungen deutschen Literatur ordnet sich Dorn, Jahrgang 1963, unter die eher traditionellen Erzähler ein. Ihre Stärke ist nicht die szenische Zuspitzung, das situative Standbild. Sie legt ihre Geschichte breit an und führt sie bereitwillig aus. Mit anständiger Zeitenabfolge und realistischen Settings – und mit einem Hang zur Parodie, wenn es um Männer geht. Wobei das Etikett traditionell sich nur auf das Erzählmuster bezieht. Veras Beziehungsgeschichten sind ganz bestimmt nicht von gestern. Schon gar nicht, wenn Dorns Figuren weniger verzweifelt als resigniert einen letzten Hauch von Hoffnung beschwören, so als griffen sie nach einem Strohhalm, an dem ihr Leben hängt. „Die Blumen welken schon“, sagt Vera und wiederholt damit am Ende den Eröffnungssatz des Romans. „Vincent lässt die Zeitung sinken und schaut sich den Strauß an. ‚Wenn sie zu welken beginnen, sind sie am schönsten, glaube ich.‘ “

So nimmt sich die Liebe 2000 zurück. Wo sexmäßig alles möglich ist und alles Mögliche auch erlebt werden muss, ziehen sich Vincent und Vera auf ihre Insel der emotionalen Bescheidenheit zurück.

Katrin Dorn: „Lügen und Schweigen“. Aufbau-Verlag, Berlin 2000, 208 Seiten, 32 DM

Hinweis:Als der Vater mit einem Gehirntumor im Sterbenliegt, sagt die Mutter nur: „Das wird schon wieder.“Aber nichts wird. Und Vera hält es nicht mehr aus.

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