: Ein Kloster im politischen Nirgendwo
Das Dorf Xiahe mit dem berühmten Kloster Labrang liegt in Tibet – auch wenn die politische Geografie Chinas andere Grenzen zieht. Der Pilgerort gehört zum Ostteil Tibets, den es offiziell gar nicht mehr gibt
Mitten im Reich der Mitte und doch weit weg vom Zentrum der Pekinger Macht liegt der kleine Ort Xiahe. Auch wenn es keinen Schlagbaum gibt, Xiahe ist schon Tibet. Außerhalb dessen, was heute diesen Namen trägt. Und doch ein Teil davon, was Tibet einst war – bevor die Chinesen sich den Osten einverleibten und den Westen um die Hauptstadt Lhasa zur autonomen Region der Volksrepublik machten.
Das Stadtbild bestimmen Menschen mit sonnenverbrannten, herben Gesichtern, in traditionell bunt bestickten Gewändern und mit Jakfellmänteln bekleidet. Han-Chinesen, Hochchinesen aus den Flachlandgebieten, machen sich dagegen rar. Kein Volk der Welt liebt seine Peiniger. Die Han, mit 93 Prozent die größte Bevölkerungsgruppe in China, besetzen trotzdem auch hier die wichtigsten Positionen in der Regierung, bei der Polizei und im Militär. Die Tibeter sind eine von 55 nationalen Minderheiten. Die Zentralregierung aber führt die Zügel lockerer als anderswo im Riesenreich. Wohl um den schwelenden Unmut des tibetischen Volks im Zaum zu halten.
Auf 2.920 Höhenmetern liegt Xiahe in den östlichsten Ausläufern des tibetischen Hochlands. Ein kleiner Ort mit einer asphaltierten Straße im Zentrum. Der Rest ist Dorf, umgeben von Bergen, die die Nacht ein paar Stunden früher anbrechen lassen als an den meisten anderen Orten dieser Welt. Hier steht das Kloster Labrang. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts wurde es vom Gelugpa-Orden – den so genannten Gelbmützen – gegründet, und heute wird es von der sechsten Inkarnation des Lebenden Buddha geführt, den Lamaisten gleich nach dem Dalai Lama und dem Panchen Lama verehren.
Labrang gilt als gesegneter Ort und ist ein bedeutendes Pilgerziel. Alljährlich strömen die Gläubigen in Scharen hierher. Immer öfter auch Touristen. Reisegruppen in gecharterten Bussen, die für einen Nachmittag oder zwei Mystisches spüren und saubere Bergluft schnuppern wollen, vor allem Hippies. Langnasen – chinesisch für Europäer – in Batik oder Wildleder bevölkern Xiahe. Kein Wunder bei gnadenlos günstigen, selbst für China niedrigen Preisen für Essen und Schlafen.
Vor dem Kloster, entlang dem Graben mit Abwasser, trifft man sich, um die Dinge des täglichen Lebens zu kaufen und zu verkaufen. Eine Gruppe Frauen hält laut schnatternd einen kleinen Obststand umzingelt. Sie tragen Hüte aus Leder und schwere, speckige Mäntel, gefüttert mit Fell und unten am Saum bunt bestickt. Der Haufen Äpfel vor ihren Füßen ist bald ausgefeilscht – zu reden aber gibt es reichlich. Immer wenn eine den Kopf mit Schwung in den Nacken wirft, blitzt es grellgelb auf. Jede von ihnen hat einen, wenn nicht mehrere Goldzähne im Mund – eine Versicherung für schlechte Zeiten, die hier oben schon drohen, wenn der Regen nicht rechtzeitig kommt oder die Sonne die Erde verbrennt.
Schlechte Zeiten haben auch die fast dreihundert Jahre alten Klostermauern im Übermaß gesehen. Die allerschlechtesten sind noch gar nicht so lange vorüber. Nach rigorosen Verfolgungen religiöser Minderheiten durch die Zentralregierung lebten im Kloster nur noch zehn statt ursprünglich viertausend Mönche. Die vollständige Zerstörung verhinderte ein um sein Seelenheil besorgter Funktionär, der Sprengmeistern der Kulturrevolution im letzten Moment Einhalt gebot. Das Kloster wurde stattdessen nur geschlossen.
Seit einigen Jahren geht es wieder bergauf mit Labrang. Mönche studieren hier tantrischen Buddhismus, Medizin, Recht, Astronomie und Theologie. Und Pilger und Touristen bringen sogar ausreichend Geld, um einige besonders hässliche Wunden zu flicken. Erst kürzlich hat die Gongtang-Pagode eine neue, goldene Kuppel erhalten. Die Lehmhäuser rund um das Kloster werden wieder von 1.700 Gelbmützen bewohnt. Und statt fremder Regierungen sind die Launen des Schicksals zuständig für Katastrophen – so, wie es immer war.
Später Nachmittag: Drei Gläubige erreichen die letzte Etappe des drei Kilometer langen Pilgerpfads, der im Uhrzeigersinn um das Kloster führt. 650.000 Quadratmeter Tempel, Schreine und schier endlose Reihen von Gebetsmühlen. Jede einzelne, dunkelrot bemalt und aus Holz, wird von jedem einzelnen Paar Hände bewegt. Im letzten Schrein hängt die größte. Mit aller Kraft dreht jeder der drei Pilger die hölzerne Mühle einmal um sich selbst. Hell und silbern schlägt eine kleine Glocke an.
Die letzte Umdrehung, der letzte Pilger. Die drei verlassen den Schrein mit den blutroten Wänden. Draußen leuchtet die Kuppel der Gongtang-Pagode im späten Licht des Tages. Und während über die Gipfel, die niemals im Jahr schneefrei sind, die Nacht hereinbricht, verschließt ein Mönch das Tor zum Kloster – bis zum Morgen und einem weiteren Tag. ANDREAS SACHSE
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