: Auf die Gene, fertig, los!
Arbeit an einem Mythos: Die Kartierung des menschlichen Erbguts ist fast abgeschlossen.Doch wird dieser Erfolg überschätzt. Ob er den Kranken je nutzen wird, bleibt vorerst ungewissvon WERNER BARTENS
Im Rennen um die schnellstmögliche Kartierung des menschlichen Erbguts ist die Entscheidung anscheinend gefallen. Craig Venter, Chef der US-Firma Celera Genomics, hat sich letzte Woche zum Sieger im Wettlauf um die Gene erklärt. Seine Forscher hätten 99 Prozent der Bestandteile des Erbguts identifiziert, teilte er vergangenen Donnerstag mit. Was es für die Forschung und die Patienten bedeutet, dass Venter das Rennen gewonnen hat, ist noch ungewiss. Zu vermuten ist jedoch, dass die Bedeutung der Genkartierung deutlich übertrieben wird.
Eindeutig ist bisher jedenfalls nur der Gewinn für Venters Unternehmen. Der Börsenkurs von Celera stieg in den letzten Tagen um mehr als 50 Prozent, seit 1999 hat sich der Aktienwert verneunfacht. Doch Börsianer, die manchmal „Klon“ nicht von „Clown“ unterscheiden können, gehen in ihren Bewertungen von Genfirmen nur selten von realistischen Erfolgen aus, sondern häufiger von den Erwartungen, die einem Projekt entgegengebracht werden. Und diese wussten nicht nur die Genforscher von Celera zu bedienen. Sie haben die Genvermessung in größtmöglichen Dimensionen geschildert: Mit der Kartierung der Erbanlagen stehe die Erforschung des „Geheimnisses des menschlichen Geistes“ an (Krebsforscher Robert Weinberg) oder die Entschlüsselung des „Buchs des Menschen“ (Walter Bodmer, einer der führenden Genforscher der USA). Der Franzose Daniel Cohen, Europas bekanntester Genkartierer, sprach von „den Genen der Hoffnung“. Nobelpreisträger Walter Gilbert hat die Vermessung des Erbguts mit der „Suche nach dem Heiligen Gral“ verglichen.
Das sind große Worte, die zeigen, welch unbegrenzten Vertrauensvorschuss viele Wissenschaftler in die Erforschung des Erbguts setzen. In der sprachlichen Überhöhung des Genoms wird deutlich, dass der Erbsatz des Menschen nicht allein das Objekt wissenschaftlicher Vermessung ist, sondern auch ein ideologisches Konstrukt, das für manche Forscher sogar den Wesenskern des Menschlichen „an sich“ beinhaltet. Schließlich – so die reduktionistische Argumentation vieler Wissenschaftler – wird bei der Kartierung nicht allein das Erbgut einzelner Menschen untersucht, sondern der kollektive Genpool, das Charakteristische der Menschheit insgesamt. Diesem Mythos von der Allmacht der Gene verfallen allerdings nicht nur Befürworter, sondern auch Kritiker der Gentechnik, wenn sie – etwa bei DNA-Analysen zur Verbrecherjagd – gleich den gläsernen Menschen befürchten.
Die Überschätzung der Genkartierung wird auch erkennbar, wenn das Vorgehen bei der Vermessung genauer betrachtet wird. Die Abstandsmessung zwischen den Genen ist die häufigste Art der Analyse. Dazu wird der Erbstrang zunächst in Teilstücke zerschnitten, markiert und dann wieder in die richtige Reihenfolge gebracht. Zusammengefügt, können die markierten Enden dann – wie Grenzsteine und Feldwege auf parzelliertem Ackerland – die Bereiche auf dem Erbstrang kenntlich machen. Die metaphorisch überhöhte Darstellung dieser Erfassung des menschlichen Erbguts als „Schrift des Lebens“ und „Sprache der Gene“ trifft daneben. Sie suggeriert Erkenntnisgewinn, wo Vermessungsarithmetik vorherrscht: Bei der Kartierung werden Claims abgesteckt, Wegmarken gesetzt – nicht mehr und nicht weniger. Mit einem U-Bahn-Plan von Paris, so nützlich er auch ist, kann man keine Einsichten in die Befindlichkeit oder Lebensqualität der Bewohner gewinnen – allenfalls Informationen über das Verkehrsnetz.
Genau diesen Zusammenhang geben die Genkartierer aber vor. Sie versprechen – um bei der Metapher der Landvermesser zu bleiben –, mit Hilfe ihres U-Bahn-Plans Kranke behandeln zu können. Eine groteske Selbstüberschätzung. Jetzt, wo das menschliche Erbgut fast vollständig kartiert ist, beginnt erst die Arbeit, die einmal kranken Menschen zugute kommen könnte. Jetzt geht es erst darum, festzustellen, ob die entdeckten Gene überhaupt eine Funktion haben und, wenn ja, welche.
Doch selbst wenn nach der Vermessung auch die Funktionszuschreibung gelingt, was folgt daraus? Angenommen, das Erbgut ist kartiert, man findet auf einem Chromosom ein Gen und kann etwas über seine Funktion sagen. Möglicherweise ist es an der Entstehung von Krebs beteiligt. Ist es das einzige Gen, das zu diesem Krebs führt, oder nur in Wechselwirkung mit anderen Genen? Führen alle Veränderungen des Gens zu Krebs oder nur bestimmte? Wie viele Veränderungen des Gens gibt es? Fragen über Fragen. Beim Brustkrebs hat sich gezeigt, wie heikel das Wissen um die Gene sein kann. Bis heute ist nur bekannt, dass sie bei 5 bis 10 Prozent der Brustkrebsfälle an der Entstehung beteiligt sein können. Einige Frauen haben sich nach einem positiven Gentest die Brüste abnehmen lassen, ohne zu wissen, ob sie wirklich einmal an Krebs erkranken werden.
Das wichtigste Ziel der Medizin ist die Heilung. Erkenntnisse über ein an der Krebsentstehung beteiligtes Gen kommen der Therapie jedoch kaum zugute. Vor der Entdeckung der Brustkrebsgene feierten die Genwissenschaftler die Erforschung der Erbkrankheit zystische Fibrose (Mukoviszidose). Bei dieser am häufigsten verbreiteten Erbkrankheit verschleimen die Lungen und die Bauchspeicheldrüse. Das Gen wurde 1985 entdeckt, 1989 charakterisiert. Die Forscher glaubten, die Krankheit als Erste gentherapeutisch behandeln zu können. Mittlerweile ist der Jubel verstummt. Fast 800 Veränderungen des Gens sind inzwischen bekannt. Manche führen zur Erkrankung, andere nicht, manche zu schweren Verläufen, andere zu leichten Formen. Welche Genveränderung das eine oder das andere bewirkt, ist völlig rätselhaft. Und eine Behandlung, die heilt, scheint in weiter Ferne.
Außerdem betreffen die Leiden, die durch Kenntnis des Erbguts besser erforscht werden könnten, nur die 3 Prozent der Erkrankungen, die auf einen einzigen Gendefekt zurückzuführen sind. Häufige Krankheiten wie Bluthochdruck, Diabetes, Herzleiden, Schlaganfall oder Asthma gehören nicht dazu. Sie beruhen auf dem gestörten Zusammenspiel zahlreicher Gene und werden außerdem stark durch Umweltfaktoren und Lebensführung mit beeinflusst. Sie sind auch durch die vollständige Erfassung des Erbguts nicht besser vorherzusagen oder zu behandeln. Dennoch schlagen viele Wissenschaftler in ihrer Anpreisung der Erbgutkartierung den Bogen zur Therapie. Aussichten auf Heilung verkaufen sich eben besser als Heilslehren. Vielleicht gelingt ja durch eine verbesserte Ortskenntnis im Erbgut wirklich einmal die Behandlung einer bisher unheilbaren Krankheit. Wer zum gegenwärtigen Zeitpunkt jedoch den Kurzschluss „Kartierung führt zu richtiger Behandlung“ im Munde führt, reduziert die Abfolge der notwendigen Schritte so enorm, wie wenn sich ein Bauarbeiter beim Teeren einer Straße der ersten Hilfe rühmen würde, nur weil auf der Straße irgendwann einmal ein Krankenwagen zum Unfallort fahren könnte.
Hinweise:Beim Brustkrebs hat sich gezeigt, wie heikel das Wissen um die Gene sein kannViele Krankheiten werden durch Umwelt und Lebensführung mit beeinflusst
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen