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Vom Vergessen

Der neue Botho Strauß ist da – und, richtig, es findet sich tatsächlich wieder Antimodernes. Mit „Das Partikular“ beginnt aber auch entschieden des Dichters Weg in die Altersmildheit

von VOLKER WEIDERMANN

Hier ist er: der ganze Strauß. In einem Buch. Kompakt, vollkommen, ganz und gar. Für Feinde, Freunde und Verächter. Sie alle finden in „Das Partikular“, dem neuen Buch von Botho Strauß, alles, alles, was sie suchen und was sie an ihrer ganz persönlichen Strauß-Meinung schon lange bestätigt wissen wollten.

Vor allem die Feinde haben ihre Liste schnell beisammen: zunächst der Antiwestler, der selbstbewusste Nationalist, der konservative Revolutionär: „Ich hoffe wie er, die Welt schüttelt ihren blutrünstigen Parasiten ab, den vollgesogenen Westen, diesen feisten Schmarotzer [...] Wer bist du, männliche Fratze der Entbehrungslosigkeit, der unkriegerischen Schläue, Detail aus einer Menschensturzbeschreibung [...] Die Kultur ist leer, weil sie politisiert wurde, die Politik ist vergiftet, weil sie kulturlos wurde.“ Und hier, der Sprachverwüster und schwer verfehlende Attributist: Die Flucht der Rebhühner sei zu kurz, „um dröllernd aufzuflattern“, kann man lesen, und „im Garten unter den Bäumen hörte ich gern den sprudelnden Vögeln zu“.

Auch für Feinde des Edelkitsches gibt es Neues: „Es würde zwischen ihnen zu einer immer tieferen Entkleidung kommen, davon war sie überzeugt.“ Und: „Das flache Winterlicht fällt in die Stille zweier, die einander ungeschickt blieben.“ Sowie: „In der warmen Nacht der Perseiden, unter dem Schneefall von Sonnen, hörten wir den lautlosen Laut des Erlöschens.“

Und der raunende Mystiker Strauß ist auch noch da: Da gibt es Frauen, die „ein magisches Strahlenbündel von Glücklosigkeit“ sind, es gibt Ritualmorde, letzte Hinrichtungen, „tiefe, rauschhafte Gedanken“ und den Satan: „Der Mensch bedarf des Versuchers.“ Ja.

Aber: Botho Strauß ist vor allem ein Wahrnehmungskünstler, ein großer Lebensdetailsammler, der mit ein, zwei Gebärdenbeschreibungen ein präzises Menschenbild entstehen lassen kann, mit einem kurzen Dialog die Geschichte einer Beziehung. Und in seinem neuen Buch hat er diese Kunst zu einer neuen Meisterschaft gebracht.

Es sind ganz ähnliche Menschen, wie man sie aus seinen früheren Kurzprosabänden kennt, die mittelalten Paare und Passanten, die sich hassen und verachten, abstoßen und anziehen, kennen, lieben, immer wieder missverstehen, sich bald schon gleichgültig werden und irgendwann vergessen. Vielleicht sind sie diesmal nur liebevoller gezeichnet, nachsichtiger, ohne Verachtung, Missgunst, Widerwillen.

Und mit einer feinen Ironie, ja Selbstironie des Erzählers, die bei Strauß bislang undenkbar war: So bekennt der Icherzähler etwa, dass er sich in einem misslungenen Geburtstagstelegramm sehr bemüht hatte, „den ein oder anderen wertvollen Ausdruck zu verwenden“. Und ein anderes Strauß-Alter-Ego, das sich ein Leben lang vor einem großen Porträtisten entblößte, um noch präziser und schonungsloser gemalt zu werden, nennt sich einen „wie besessen ihm sitzende[n] Mann, der sich unentwegt zu sich selbst bekannte“.

Botho Strauß, 55, ist ein alter Mann, der altersmilde auf seine Mitwelt blickt, sich selbst – seinen Willen zum großen Stil, die manische Selbstentblößung – nicht mehr so recht ernst nehmen kann. Der unentwegt vom Tode schreibt, vom Abschied, vom Glück und vom Vergessen. In seinem Skandaltext, dem „Anschwellenden Bocksgesang“, hatte Strauß das Diktum von Max Frisch „Werde im Alter nicht weise, sondern bleibe zornig“, als den „Gemeinplatz kritischer Bequemlichkeit“ bezeichnet und erklärt: „Was darf (der Zornige) alles außer acht lassen, um seinen Zorn zu konservieren!“ Nein, der große alte Mann, wie Strauß ihn sieht, muss weise werden. In „Das Partikular“ hat er einen großen Schritt dahin getan.

Wenn er über seine einstigen Gegner schreibt: „Empörers Uhr ist stehn geblieben. / Erhobene Faust, der Arm schlief ein. / Sie sind von Skepsis blöd geworden. / Ihr Zweifeln wurde kindisch.“ Dann fügt er gleich darauf hinzu: „Doch was du selbst erwiderst oder träumst / du fügst es nur dem Kitsch der Freiheit zu.“

Es ist also alles gleich? Die Gegensätze aufgehoben? Die alte Gegnerschaft verblasst? Oder ist, was Weisheit heißt, nur altersbedingte Gedächtnisschwäche, ein unlauteres Einebnen der Gegensätze? Am Ende des Buches schildert Strauß die Begegnung zweier Greise. Regisseure, die seit langem schon verfeindet sind. Durch den Vorwurf, ein Nazi-Regisseur gewesen zu sein, hat der eine, Pasche, dem anderen, Buch, die Karriere zerstört. Außerdem hat er Buchs Frau durch eine tiefe Demütigung in den Tod getrieben.

Nach vielen Jahre treffen sie sich wieder. Buch ist erschüttert, glaubt, den Anderen durch bloße Anrede in tiefe Depression zu stürzen: „Guten Tag, Herr Pasche“, sagt Buch. Pasche nickt erstaunt und notiert sich später: „Ein älterer Herr trat an meinen Tisch und grüßte freundlich. Sprach mich mit Namen an. Seltsam wohltuend. [...] Vielleicht ein Verehrer aus der Schauspielzeit [...] Egal. Ein Gruß mit meinem Namen dran ... Wieder ein schöner Tag.“

Strauß ist entrückt, weit, weit weg, in eine Art Greisentum vergraben, das Vergessen heißt. Dem politischen Menschen Strauß nimmt das die Wut, das Ressentiment und die Entschlossenheit. Dem Dichter ermöglicht es den befreiten, klaren, neuen Blick.

Botho Strauß: „Das Partikular“. Carl Hanser Verlag, München 2000, 200 Seiten, 34 DM

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