: Sind die Lehrer faule Säcke?
CONTRA – Lehrer haben es schwer in der Gesellschaft, sagt RAINER WERNER. Er ist Lehrer in Berlin. Das wirkliche Problem ist für ihn die akute Krise des Lehrens und des Lernens.
Bei Meinungsumfragen rangieren Lehrer nicht nur hinter den Immobilienmaklern, sondern sogar hinter den Politikern, denen zurzeit nun wirklich niemand etwas Gutes zutraut. Dass in einem solchen Klima ein Schulsenator leichtes Spiel hat, die Arbeitszeit für diesen Berufsstand zu erhöhen, leuchtet ein.
Was die Lehrer Berlins zurzeit verdrießlich stimmt, ist nicht nur die Vermehrung der Arbeitszeit allein. Es ist das ganze Bildungsumfeld in der Hauptstadt, das seit einigen Jahren in eine Schieflage gekommen ist. Heute Lehrer zu sein ist keine Kleinigkeit. Die Erwartungen unserer individualisierten Gesellschaft an die Schule haben in den letzten Jahren immer mehr zugenommen. Schule wird für alles zuständig erklärt, wird für jedes menschliche Defizit verantwortlich gemacht. Gleichzeitig beklagen private Arbeitgeber und Universitäten das Fehlen von Schlüsselqualfikationen, sie registrieren gar ein Nachlassen in den elementaren Kulturtechniken. Auch hier soll Schule nachbessern, soll effektiver und nachhaltiger unterrichten. Erziehungsverweigerung in vielen Elternhäusern zwingt die Lehrer zudem dazu, als Sozialarbeiter tätig zu werden, um durch erzieherisches Nachbessern wenigstens die Rahmenbedingungen für sinnvolles Unterrichten herzustellen. Wäre es nicht an der Zeit, dass die Lehrer einmal der Gesellschaft die Gegenrechnung präsentieren? Warum erziehen die Eltern ihre Kinder zu wenig zu sozialem Verhalten und zu Mitmenschlichkeit? Warum leistet die Gesellschaft, zurzeit vor allem die Politik, der Verlotterung der Sitten und dem Verfall von Moral ständig Vorschub, so dass die Lehrer, die auf solch altertümlichen (?) Tugenden bestehen, von manchem Schüler nur müde belächelt werden?
Was die Arbeit in der Schule heute so bedrückend macht, ist im Grunde eine Krise des Lehrens und Lernens. Das verfügbare Wissen verdoppelt sich in immer kürzeren Zeiträumen. Zudem ist es im WWW abrufbar. Da immer noch auf pure Wissensvermittlung setzen zu wollen gleicht dem Versuch des Hasen, den Igel einzuholen.
Auf diese Sinnkrise, die Lehrer wie Schüler untergründig spüren, haben die Bildungskommissionen und Wissensexperten noch keine Antwort gefunden, im Bereich der Schulaufsicht scheint sie noch nicht einmal als Frage präsent zu sein.
Aufgeschreckt von negativen Ergebnissen deutscher Schüler bei internationalen Vergleichstests blasen die Kultusminister unisono ins gleiche (falsche) Horn: Leistungssteigerung. So wie bisher Wissen vermittelt wird, kann dies nur heißen, den Leistungsdruck zu erhöhen, um mehr richtige Lernergebnisse zu bekommen. Die eigentliche Frage wird nicht gestellt: Wie muss Lernen heute aussehen, damit es effektiv und nachhaltig ist?
Die empirische Lernforschung hat eindeutig bewiesen, dass das rezeptive Aufnehmen von Stoffmengen die ineffektivste Form des Lernens darstellt. Was man nur hört, behält man zu 20, was man sieht und liest, zu etwa 30 Prozent. Was man sich selbsttätig aneignet, wird zu 80 Prozent behalten. Verstehen fängt also beim Selbermachen an.
Viele Lehrer wollten gar nicht darauf warten, dass diese nötige Reform der Lernkultur von oben angestoßen wird. Sie haben sich in Fortbildungsveranstaltungen selbst die nötige Kompetenz zugelegt. Seit in Berlin der Rotstift regiert, sind aber viele dieser dringend benötigten Fortbildungen eingespart worden. Bleiben nur noch die privaten Schulbuchverlage, die inzwischen – gegen Gebühr, versteht sich – diese staatliche Aufgabe übernehmen.
Die Bildungsmisere wird sich erst bessern, wenn die Kunden des Dienstleistungsbetriebs Schule – also die Eltern und Schüler – dem Veranstalter Staat die Rote Karte zeigen. Dass bei den Demonstrationen der letzten Wochen in Berlin Eltern die Initiative übernommen hatten, ist dafür ein ermutigendes Zeichen.
Rainer Werner (53) ist Oberstudienrat für Deutsch und Geschichte am John-Lennon-Gymnasium in Berlin-Mitte.
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