: Wie peinliche Verwandte
Auf den Straßen von Liverpool glaubt keiner mehr an die Arbeiterverbundenheit von Tony Blairs New Labour
aus Liverpool RALF SOTSCHECK
In Hamburg hat er betteln gelernt. Das ist lange her. Peter Kilfoyle hatte sich als Teenager mit einem deutschen Straßenmusiker zusammengetan: „Er machte die Musik, ich lief mit der Sammelbüchse herum.“ Später spielte Kilfoyle selbst Musik, Bassgitarre in der Band „The Hungry Is“.
Auch das liegt schon eine ganze Weile zurück. Inzwischen ist Kilfoyle 53 Jahre alt, er ist verheiratet, hat vier Kinder. Und betteln muss er schon lange nicht mehr, höchstens noch für seinen Wahlkreis. Seit 1991 ist er Labour-Abgeordneter für Liverpool-Walton. Bis vor kurzem war er Staatssekretär im Londoner Verteidigungsministerium, doch plötzlich warf er den Job hin.
Sein Rücktritt ist für die Labour-Regierung ein Warnzeichen, denn Kilfoyle gilt als alles andere denn links, seit er dafür gesorgt hat, dass der trotzkistische Militant-Flügel in Liverpool aus der Partei geworfen wurde. Kilfoyle war einer der engsten Vertrauten des Premierministers Tony Blair. Er hatte Blairs Nominierungspapiere unterzeichnet, als 1995, nach dem Tod von John Smith, ein neuer Parteiführer gewählt werden musste.
Bei seiner Rücktrittsrede sagte er, Schatzkanzler Gordon Brown habe in seinem Haushaltsplan vorige Woche nicht genug für die benachteiligten Labour-Hochburgen getan. Doug Henderson, Abgeordneter aus Newcastle in Nord-England, der vor einem Jahr aus dem Verteidigungsministerium geworfen wurde, pflichtete ihm bei: „Der Norden weiß, dass es eine Nord-Süd-Schere gibt, der Süden weiß das auch. Es macht keinen Sinn, wenn die Regierung behauptet, dass das nicht der Fall sei.“ Und Frank Field, ein weiterer ehemaliger Staatssekretär, sagte gestern, die Wohlfahrtsreformen verschärften den „sozialen Ausschluss“, wie die Verarmung weiter Bevölkerungsteile genannt wird.
Kilfoyle will ein kritischer Freund der Regierung bleiben, sagt er, aber von der Hinterbank aus könne er mehr für seinen Wahlkreis tun. „Ich stamme aus Walton, das ist meine Heimat. Ich komme aus einer irisch-katholischen Arbeiterfamilie mit 14 Kindern“, sagt Kilfoyle, und wenn er sich zurücklehnt, spannt sein blau kariertes Hemd über seinem enormen Bauch. „Manche Abgeordnete kandidieren in Gegenden, die sie gar nicht kennen, sie verhalten sich wie Missionare.“ Kilfoyle dagegen weiß genau, mit welchen Problemen die Menschen in seinem Wahlkreis zu kämpfen haben.
„Lumpenproletariat“, sagt er. „28 Prozent sind arbeitslos, auch wenn der Schatzkanzler behauptet, die Zahl sei nur halb so hoch. Viele arbeiten schwarz. Die Leute haben eine schlechte Ausbildung, es gibt hier viele Alleinerziehende. Die Verbrechensrate, der Drogenmissbrauch und die Bevölkerungsdichte sind hoch, die Häuser sind billig gebaut, schlechte Qualität, ob es die alten Reihenhäuser sind, oder die Neubauten.“
Gegenüber seinem Parteibüro in der Walton Road ist ein Aldi-Markt. Gebackene Bohnen in Dosen, das Leibgericht der Engländer, kosten 15 Pence, das Weißbrot ebenso, die Abgabe ist auf sechs Stück pro Person beschränkt. Am Straßenrand weist ein Schild nach Aintree, der weltberühmten Pferderennbahn, wo das Grand National ausgetragen wird. Es sind nur zwei Meilen, doch wer in Walton wohnt, geht zum nächsten Buchmacher, wenn er sich für Pferde interessiert. In der Walton Road liegen sieben oder acht Wettbüros auf einem halben Kilometer.
Alle Geschäfte verfügen über Metalljalousien, und wenn sie nach Geschäftsschluss heruntergelassen werden, ist es wie in einer Geisterstadt. In den Seitenstraßen mit den typischen „Two-up-two-down-Häusern“ englischer Arbeiterviertel, zwei Zimmer oben und zwei Zimmer unten, sind viele Fenster zugemauert, die Bewohner weggezogen.
Mary's Cafe in der Oxton Street hat schon lange keine Kundschaft gehabt, der Imbissladen ist mit Wellblech verbarrikadiert. Gegenüber der schmalen Straße ragt hoch über den Reihenhäusern der Goodison Park auf, wo der Fußballclub Everton seine Heimspiele austrägt. „Nil satis nisi optimum“ – das Vereinsmotto steht hoch oben auf der Tribünenrückseite: „Nur das Beste stellt uns zufrieden.“ Unten, in einer kleinen Gasse im Schatten der Haupttribüne, spielen ein paar Jungen Fußball.
Der FC Everton gehört zu Peter Kilfoyles Wahlkreis, ebenso wie der Lokalrivale FC Liverpool. „Ich bin eher Everton-Fan“, sagt er, doch ins Stadion schafft er es auch nach seinem Rücktritt als Staatssekretär nur selten. Warum ist er überhaupt zurückgetreten? „Die Regierungsclique traut keinem Menschen außerhalb ihres eigenen engen Kreises“, sagt er. „Alles geschieht in London, es gibt keine lokale Autonomie in England. Die Entscheidungen, die in London getroffen werden, haben aber keine Auswirkungen auf Liverpool oder irgendwelche anderen benachteiligten Regionen.“
Die Beatles-Stadt hat nicht nur die höchste Arbeitslosigkeit, sondern die Bewohner zahlen auch die höchste Gemeindesteuer Englands, 1.171 Pfund im Jahr. Der Stadtrat hat einen neuen Pressesprecher eingestellt, Daniel Harris, der bis dahin im Entwicklungshilfeministerium beschäftigt war. „In Liverpool wurden nie Sachen hergestellt, sondern lediglich von einem Ort zum anderen bewegt“, sagt er. „Deshalb liegt die Zukunft auch auf dem Dienstleistungssektor – Tourismus, Bars, Restaurants, Call Centres.“
Liverpool hatte nie eine nennenswerte Industrie, abgesehen vom Schiffbau, und der Hafen bestimmte das Leben in der Stadt. Liverpool war eine Stadt der Einwanderer, Mitte des 19. Jahrhunderts kamen 300.000 Iren, die vor der Hungersnot auf der Grünen Insel flohen, ab 1870 siedelten Chinesen in Liverpool und gründeten die älteste Chinatown Europas, um die Jahrhundertwende kamen die Juden aus Osteuropa. Der Niedergang der Schifffahrt löste auch Liverpools Niedergang aus, die Dockarbeiter wurden wieder zu Tagelöhnern, und als sie deshalb streikten, wurden sie entlassen. Liverpool hatte seinen Zweck verloren.
Die Stadt und ihre Umgebung gehören zu den ärmsten Gegenden der Europäischen Gemeinschaft, sie sind als Ziel-eins-Region besonders förderungswürdig, doch die britische Regierung hat bis heute nicht die 844 Millionen Pfund EU-Hilfe für die Schaffung von Arbeitsplätzen mit einem Betrag gleicher Höhe aufgestockt. Tut sie es nicht, fordert die EU das Geld wieder zurück.
Ginge es allein um Liverpool, könnte New Labour es verschmerzen. Doch die Schere zwischen Armen und Reichen ist seit Tony Blairs Amtsantritt größer geworden. Der Premierminister beschwor nach Kilfoyles Rücktritt erneut Britannien als „One Nation“ ohne Klassenunterschiede, doch die Zahlen belegen das Gegenteil: Nach zwölf Monaten Labour-Regierung war die Zahl derjenigen, die von 40 Prozent des durchschnittlichen Einkommens leben müssen, um eine Million gestiegen. Die reichsten 50 Briten haben zusammen viel mehr Geld als die ärmsten 5,5 Millionen. In Surrey im Süden Englands liegt das Durchschnittseinkommen um 71 Prozent höher als in Tyne and Wear an der schottischen Grenze.
„Liverpool ist von New Labour vollkommen entfremdet“, sagt die politische Journalistin Linda Grant. „Sie gilt dort als Partei der Mittelschicht. Zum ersten Mal in hundert Jahren hat die Arbeiterklasse keine eigene Partei mehr.“ Bleibt bei den nächsten Wahlen jeder fünfte Labour-Wähler zu Hause, wird es eng für Blair.
Liverpool war noch nie sicheres Labour-Gebiet. In den Fünfzigerjahren hatten die Tories die Mehrheit, in den Sechziger- und Siebzigerjahren regierten die Liberalen Demokraten, und auch jetzt sind sie wieder an der Macht. „Walton ist zwar der viertsicherste Sitz für Labour im ganzen Land“, sagt Kilfoyle, „aber ich verlasse mich nicht darauf. Ich verlasse mich auf mein eigenes Netzwerk, nicht auf die Clique aus London.“ Bei den Kommunalwahlen gingen in Liverpool nur 20 Prozent an die Urne. Labour findet kaum noch genügend Kandidaten, die gegen die Liberalen antreten wollen.
Viele im Labour-Ortsverband in Liverpool glauben, Tony Blair sei ganz froh, dass die Liberalen für die Stadt verantwortlich sind. Sie machen ohnehin dieselbe Politik, die auch New Labour machen würde, wenn sie in Liverpool an der Macht wären, und wenn die Politik nicht funktioniert, kann man es den Liberalen ankreiden. Leute wie Kilfoyle befürchten aber, dass die Liberalen immer mehr Labour-Wähler zu sich herüberziehen. „Die Parteiführung konzentriert sich auf die Wechselwähler aus der Mittelschicht“, sagt er, „sie interessieren sich nicht für die Arbeiter, weil sie meinen, die können ja sowieso niemand anderes wählen.“ John Monks, Generalsekretär des britischen Gewerkschaftsverbandes, sagt: „Sie behandeln ihre Stammwähler wie peinliche ältere Verwandte.“
Mike Arthur ist Straßenkehrer, zu seinem Revier gehört die Spellow Lane, eine breite Querstraße der Walton Road mit hässlichen, dunkelbraunen Neubauten, die wie Kasernen aussehen. Arthur wohnt dort. Er ist dreißig, sagt er, aber er sieht älter aus. Vier Jahre hat er keinen Job gehabt, seit Januar ist er Angestellter der Stadt. Er zitiert einen Satz von Tony Blair: „Wenn die nächste Labour-Regierung zum Ende ihrer Amtszeit nicht den Lebensstandard der Ärmsten angehoben hat, ist sie gescheitert, sagte Tony Blair 1996. Ich habe Glück gehabt, aber von meinen Freunden und Verwandten hat kaum jemand einen Job. Und wählen geht von denen niemand mehr, mein Vater hat nicht mehr gewählt, seit die Tories 1979 an die Macht kamen.“ Sein Labour- Parteibuch hat er aber noch nicht zurückgegeben. „Wegen Kilfoyle“, sagt er.
Der aber wird nicht müde zu betonen, dass er der Regierung alles Gute wünscht: „Ich bin ein alter Romantiker aus der Nachkriegsgeneration. Labour hat vielen von uns Chancen eröffnet, die wir sonst nicht gehabt hätten.“ Er hätte nie eine Universität besuchen können, er verdankt der Labour-Politik sein Studium an der Universität Durham und seine Ausbildung zum Lehrer. „Die Labour Party, die ich kenne, hat sich gar nicht viel verändert“, sagt er, und es hört sich an, als ob er sich selbst Mut macht. „Sie mag auf den falschen Weg geführt worden sein, sie ist demoralisiert und verwirrt, aber sie ist immer noch dieselbe Partei.“
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