: Ein Film für Oskar
Überall Krise: Warum es in Charlie Chaplins Modern Times so durcheinander geht ■ Von Georg Seeßlen
Hinterher sieht es aus, als wäre Charlie Chaplins 1936 entstandener Film Modern Times der komische Kommentar zu etwas, das man so gut kennt, dass man sich recht gern davon verabschieden möchte. Der verschärfte Fordismus einer kapitalistischen Produktionsanlage, die den Menschen zwar noch braucht, ihn aber dem Rhythmus der Maschinen in Form des Fließbands unterstellt, und auch in seinem Wert an der Maschine misst. In Wahrheit hat Chaplin sehr schnell auf eine Neuigkeit reagiert; im Gespräch mit einem Reporter der New Yorker World wurde er auf die Existenz des neuen Fließband-Systems aufmerksam, das er daraufhin in Detroit besichtigte. „Es war eine erschütternde Geschichte, wie die Großindustrie gesunde junge Männer aus der Landwirtschaft anwarb, die nach vier oder fünf Jahren am Fließband geistig und körperlich zusammenbrachen.“
Modern Times ist ein Film der Krise, gleich mehrfach. Er ist ein Film zur Krise der Wirtschaft und zur Krise des gesellschaftlichen Vertrages zum „pursuit of happiness“. Er ist ein Film der Krise des Kinos im Allgemeinen, die unter anderem durch die Einführung des Tons befördert wurde und des Genres der Slapstick-Komödie im besonderen: Wenn die Stummfilmgroteske eine Adaption des neuen Tempos von Stadt und Industrie war, so zeigte sich nun, wie verhängnisvoll die Beschleunigung sich für die arbeitenden oder eben nicht arbeitenden Massen auswirkt. Und wenn die Stummfilme ein metakulturelles Verständigungsmittel für die Einwanderer waren, so musste sich Sprache im Film nun als Herr-schaftsmittel und kondensierte Ideologie zeigen. Die Sprache verbürgerlichte das Kino ausgerechnet in einer Situation der ökonomischen Massenverelendung. Chaplin reagierte mit einer bewussten Verlangsamung – bis heute hat die Filmkritik ihm diese scheinbar konservative Geste nicht verziehen; und er reagierte, indem er in Modern Times die Bösen sprechen und die Sprache dumm erscheinen ließ. Zum dritten schließlich ist Modern Times ein Film der persönlichen und der artistischen Krise von Chaplin selbst. Er „politisierte“ sich ausgerechnet in einer Phase psychischer und sozialer Instabilität und stand unter dem Zwang, seine Figur, den Tramp, umzubauen. Aus einer „ewigen Gestalt“ musste ein Zeitgenosse werden. Und weil das alles, das Persönliche, das Politische und das Ästhetische, eine Frage des Zusammenhangs ist und heftig durcheinandergeht, ist Modern Times ein Film, in dem es heftig durcheinander geht, und jene Zusammenhänge erörtert werden. Lachend, zum großen Teil.
Der Tramp, Charlie, begegnet hier zwar nicht zum ersten Mal der Grausamkeit des maschinisierten Fortschritts, aber zum ersten mal ist es klar, dass er nicht die geringste Chance hat, seine ewige Maske dagegen zu bewahren. Gegen diese hilft nicht mehr das Allgemein-Menschliche noch die kindlich-unschuldige Form der Anarchie des Tramps. Seine Rebellion also ist für diesmal ein Missverständnis, so in der komischen Maschinisierung eines Körpers, der uns vordem schon gerade durch einen Hang zur Gleichzeitigkeit von Mechanik und Poesie aufgefallen war: Charlie verinnerlicht die Maschine zuerst und lässt sich und andere dann von der Maschine fressen. So in der Szene, in der er eine vom Lastwagen gefallene rote Fahne schwenkt und prompt zum Anführer einer Arbeiter-Demonstration wird, die noch prompter Akte von Polizeigewalt auslöst, an deren Willkür Chaplin keinen Zweifel lässt. Seine ganze Figur erklärt sich in diesem Film aus der Negation heraus. Es geht nicht mehr darum, was der Tramp will, es geht nur noch um die Verhinderung des Schrecklichsten, des Untergangs, des vollkommenen Verschwindens des Tramps und also des Menschen in der Maschinenwelt.
Paradoxerweise erzählt der Film die Geschichte eines – wenngleich satirisch – verfremdeten Aufstiegs: Nach einem Nervenzusammenbruch wird der Arbeiter zum Gehilfen eines Handwerkers, zum Besitzer eines idyllischen Hausstandes, als singender Kellner zum Künstler gar. Die sozialen Räume, Fabrik, Gefängnis, Kaufhaus, Familie, saugen ihn an und speien Charlie wieder aus. Wie es scheint, kehrt der Tramp, nach seinem Versuch, Proletarier zu werden, wieder zu seinem klassenlosen Wesen zurück.
Statt den Masses (so der Arbeitstitel des Films) beizustehen, regrediert er zum radikalen Einzelnen, zu jenem verantwortungslosen Kind, das der Tramp immer wieder wird, wenn er die Anerkennung der Welt nicht findet. Aber auch hier holt ihn die Mechanik dieser Modernisierung wieder ein. In seiner dritten Phase wird Chaplin nicht nur ein verantwortungsvoller, zärtlicher und besorgter „erwachsener“, sondern auch die vollendete Parodie des Kleinbürgers. Er tut sich mit dem Mädchen (Paulette Goddard) zusammen, das Bananen und Brot stiehlt. Die Massenerhebung und die individuelle, kriminelle Tat – beides führt ihn zu nichts. Was Chaplin im ersten Drittel des Films indes beschreibt, ist keine Science Fiction, sondern der Traum seiner Zeit. Mehr Arbeitskraft aus dem Fließbandarbeiter zu holen, ihn überall, noch auf der Toilette zu kontrollieren, eine Maschine seine Fütterung übernehmen zu lassen, um ihn seine notwendige Mittagspause zu verkürzen, bis die Maschine auch ihn ersetzen kann.
Den Anhängern der klassischen Chaplin-Komödien erschien Modern Times als hybrides Werk nicht nur zwischen Stumm- und Tonfilm, sondern auch zwischen dem „unbekümmerten“ Charlie und der „intellektuellen Überbelastung“, von der Friedrich Luft sprach. Man sieht, dass man industrielle Arbeit nicht spielen kann, jedenfalls nicht so, wie Chaplin früher Arbeit und Spiel auf kreative Weise miteinander zu verbinden wusste. So ist verständlich, dass das Ausmaß der Revolte nicht mehr komisch allein sein kann.
„In alles, was der Mensch zu dem Seinigen macht, hat sich die Sprache eingedrängt“, sagt Hegel. In Modern Times kann man diesem Sich-Eindrängen der Sprache zusehen. In allen Tonfilmen Chaplins ist die Sprache falsch; sie wird umso mehr als Maske erkennbar, je mehr umgekehrt unter der Maske das Gesicht zu sehen ist. Sprache ist die schlimmste aller Maschinen, aber am Ende fällt auch Chaplin auf sie herein und verkündet seine Vision von der durchaus sozialdemokratisch verbesserten Welt.
Chaplin entwickelte während und für Modern Times eine Theorie für eine neue gerechte und stabile Währung, die eine gewisse Verwandtschaft mit Ideen des klassischen amerikanischen „Populismus“ aufwies und schließlich nach der großen Krise in Roosevelts „New Deals“ ein Echo fand. So moderat seine Vorschläge auch waren, Sicherheit und Wohlstand nach unten zu verteilen, genügte es doch, ihn unter den Modernisierern als Kommunist und Umstürzler zu brandmarken. Damals begann etwas wie ein zähes Mobbing gegen ihn. Sagen wir es so: Chaplin hätte sich mit Oskar Lafontaine phantastisch verstanden: „Wenn Amerika weiterhin im Wohlstand leben will, dann muss das amerikanische Volk weiterhin in der Lage sein, Geld auszugeben“. Zwei Szenen, die später weggefallen sind, zeigen, wie sehr es um einen Konsens geht, nicht um die Revolte: Wir sehen den Fabrikbesitzer, magenkrank, der zusehen muss wie die Arbeiter halbwegs deftig zu essen bekommen, während ein Aktivist vom Hunger der Massen spricht. Glücklicherweise hat bloße Anschauung Chaplin davon überzeugt, dass die bloße Denunziation der Ideologie selber Ideologie produziert. Und andrerseits: Chaplin und Goddard werden dafür bestraft, dass sie Lebensmittel essen, die man gerade weggeworfen hat, um die Preise hoch zu halten.
Wussten wir nicht schon immer, dass der Kapitalisamus unfähig ist, die Chaplins und Lafontaines zu akzeptieren, die ihn retten könnten, wenigstens vor der Höllenverdammnis? Natürlich ist Modern Times deswegen kein politischer Thesenfilm. Allerdings kann man sich schon wundern, wie sich die Krisen der Modernisierungen ähneln, in der Wirklichkeit und im Kino. Chaplin kann man vorwerfen, dass er in Modern Times der metaphysischen Anforderung an den Tramp zur Anarchie in den politischen Pragmatismus ausweicht, und als er bemerkt, dass der nicht funktioniert, in ein privates Glück, das doch nur Maskerade bleibt.
Dass die Gesellschaft nicht einmal die akzeptiert, sondern mit ihrer grausamen Fürsorge noch jenen Rückzug in eine Privatsphäre verhindert, der die Verhältnisse im neuen Kleinbürgertum, damals wie heute, in der Schwebe hält, ist pessimistisch genug, um die letzten Worte des Films als Hohn erscheinen zu lassen: „Wir schaffen es schon“.
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