: Die Rückkehr der Ideologie
von ANDREW JAMES JOHNSTON
Der Regierungswechsel im Oktober 2021 bedeutete das Ende der Ära Merkel. Von da an bestimmte eine neue Generation das politische Leben des Landes: die Generation 21. Eine Generation von groß gewordenen Computer-Kids, die laut nach der Utopie ruft, die eine radikale marxistische Umgestaltung der Gesellschaft im Zeichen der Technologie fordert. Eine Jugend, die bei ihren Eltern und Großeltern tiefste Niedergeschlagenheit auslöst.
Daher bedeutete die Träne im Augenwinkel von Wahlverliererin Merkel mehr als nur die Bitterkeit der Niederlage. Sie kündet vom „unwiederruflichen Ende der unideologischen Zeit“. Das schrieb jedenfalls Benjamin von Stuckrad-Barre, der längst das Erbe von Theo Sommer angetreten hat. Sein Bedürfnis nach emotionaler Identifikation mit der Ex-Bundeskanzlerin Merkel verrät die tiefe Verunsicherung, in die er und seine sonst so souveränen Altersgenossen gefallen sind angesichts eines Generationenphänomens, das die Grundfesten der Republik erschüttert.
Die Generation 21 gibt den Beobachtern einige Rätsel auf. Über den Teens und Twens schwebt ein Hauch von 68. Mit ihren kurzen Haaren und korrekt gebügelten Hemden knüpfen sie jedenfalls nicht direkt an die Friedens- oder Antiatomkraftbewegung an. Deren angeblich romantisierendes Politikverständnis gilt den Vordenkern der neuen Generation als hohle Theatralik. Für den Gestus des Protests und der Betroffenheit, für den moralischen Ernst und das emotionale Engagement, welche die Generation von Mutlangen, Gorleben oder Wackersdorf kennzeichneten, haben die 21er nur ein verächtliches Lächeln übrig. Ebenso ergeht es dem pragmatischen Hedonismus der Toskana-Fraktion, die Radikalität durch Genuss ersetzte und die ihre ideologischen Trennlinien zwischen Orvieto und Chardonnay zog. Ganz zu schweigen von dem begeisterten Ennui der Generation Golf, die ihren Markenfetischismus mit einer ironischen Pose zu verbrämen suchte.
Sie alle hätten letztlich nur eine Politik des Verzichts betrieben. Sie alle hätten die Angst vor der Gestaltung geteilt – egal ob sie sie als Protest, Pragmatismus oder Gleichgültigkeit tarnten. So hat Bundeskanzlerin Wagenknecht wohl recht, wenn sie behauptet, dass die vierzigjährige Midlife-Crisis der Bundesrepublik überwunden sei.
Die Geschichte des Wechsels ist schnell erzählt. Nachdem Bundeskanzler Schröder in seiner zweiten Amtszeit über die Brioni-Affäre gestürzt war, brachten die Bundestagswahlen des Jahres 2006 die schwarz-grüne Koalition an die Macht. Sie legte sich für beinahe vier Legislaturperioden wie ein Mehltau über das politische Gefüge der Nation. Nach beachtlichen Anfangserfolgen, den lang ersehnten Jahrhundertreformen im Steuer-, Renten- und Gesundheitsbereich, begannen die Jahre der Stagnation. Diese konnte auch von außenpolitischen Erfolgen, wie dem Beitritt Russlands zur Nato oder der großen Klimakonferenz des Jahres 2017, nicht gelockert werden. (Dass das europäische Projekt zur Wiederbewässerung der Lagune von Venedig noch immer nicht vom Fleck gekommen ist, trübt diese Bilanz allerdings im Rückblick.) Es war vor allem die Schwäche der Opposition, die die Macht der Regierung über Gebühr verlängerte: die lange Spaltung der SPD in Lafontainianer und Eichelisten, die Zerstrittenheit der PDS.
Und doch standen bereits bei Merkels letztem Wahlsieg 2018 die Zeichen auf Sturm. Schon damals waren der Koalition aus CDU und Grünen die Jung- und Erstwähler fast völlig weggebrochen. Und als Bundespräsidentin Künast Anfang 2021 in einer ungewöhnlich politischen Rede bemerkte, sie wisse auch nicht, warum man noch grün wählen sollte, schien die Koalition in Gefahr. Doch es sollte noch schlimmer kommen: Es bildete sich der neomarxistisch inspirierte „Bund für Revolutionäre Authentizität Virtueller Ordnung“, kurz: BRAVO.
Nicht zufällig hatten die linkssozialistischen Computerteens und -twens unter ihrem Anführer Chandra Prasad ihrer Organisation einen Titel gegeben, der ironisch auf eine Zeitschrift anspielte, die sie als das populäre Zentralorgan der Jugendkultur des pragmatischen Hedonismus brandmarkten. BRAVO repräsentierte die beweglichsten Geister einer Generation, die mit dem Internet aufgewachsen war und sich in frühester Kindheit von Walt Disney abgewandt hatte, weil man Mickey Mouse nicht klicken konnte. Mit einem Hackerangriff ungekannter Größe gelang es ihnen, sämtliche Regierungscomputer dazu zu zwingen, das „Kapital“ herunterzuladen und auszudrucken. Das Ansehen der Regierung war kaum wiederherzustellen, als Prasad zur besten Sendezeit erläuterte, dass der Zwischenfall hätte vermieden werden können, wenn die Regierung sich nicht sklavisch an die längst veralteten Produkte des Dinosauriers Microsoft gekettet hätte. Merkels endgültiges Scheitern aber wurde durch den großen Anschlag auf das interaktive Fernsehen herbeigeführt.
Die Umstürzler wählten sich Deutschlands älteste Soap-Opera, „Gute Zeiten, Schlechte Zeiten“ zur Zielscheibe und veränderten die Handlung so, dass sie nur noch als Parodie auf die Regierung zu lesen war. Drei Wochen allabendlicher Verhöhnung reichten, um die Bundeskanzlerin die Vertrauensfrage stellen zu lassen. Mit ihrem nur im Internet geführten Wahlkampf sicherte sich das Linksbündnis aus PDS und SPD unter tatkräftiger Unterstützung von BRAVO die absolute Mehrheit in den vorgezogenen Neuwahlen.
Was sind die Grundlinien, die den Charakter der Generation 21 prägen? Es hat sich eine neue technische Intelligenz gebildet aus den geburtenstarken Jahrgängen, die nach dem Jahr 2000 heranwuchsen. Eine wichtige Rolle spielen dabei erstmals die Jugend aus den östlichen Bundesländern, die Kinder jener Einwanderer aus Indien und anderen asiatischen Staaten, mit deren Hilfe Bundeskanzler Schröder einst den technologischen Abstieg der Bundesrepublik gestoppt hatte, und die türkischen Migranten der vierten und fünften Generation, deren Teilintegration schließlich über den Computer erfolgte und nicht über das Staatsbürgerrecht. Die drei Gruppen sind von den langfristigen Trends der bundesrepublikanischen Gesellschaft eher unbeeinflusst und konnten daher in eine dramatische Distanz zu ihr geraten. Doch stehen sie auch für eine Entwicklung der Jugend insgesamt.
Dass sich die Generation 21 auf Marx beruft, ist mehr metaphorisch zu verstehen, auch wenn Bundeskanzlerin Wagenknecht dies anders sehen mag. Denn die Generation 21 schätzt am Historischen Materialismus nicht dessen Analysen des Kapitalismus, sondern seine Kombination von Utopie und Vertrauen in die Technologie. Schon in der Grundschule hat diese Jugend das ungeheure Allmachtsgefühl erfahren, welches die Tasten „Einfügen“ und „Entfernen“ auf dem Computer vermitteln. Bereits im Kindergarten sind sie den scheinbar unendlichen Möglichkeiten virtueller Kreativität begegnet. Fassungslos stehen sie vor ihren Eltern und Großeltern, die ihnen weißmachen wollen, dass das Zeitalter der Utopien zu Ende sei, dass nicht alles wünschenswert sei, was machbar ist, dass die Grenzen des Wachstums ohnehin erreicht seien.
An Begriffen wie „Wachstum“ und „Grenze“ zeigen sich die ideologischen Unterschiede am deutlichsten. Die Eltern argumentieren noch räumlich und konkret, während die Kinder ausschließlich virtuell denken. Für sie ist die Utopie eine Frage bloßen Wollens, sind die interaktiven 3-D-Bildschirme Quellen höchster Authentizität. Echt ist, was der Bildschirm zeigt, Was das Programm zulässt, das geht auch. Und wenn etwas Gewünschtes im Programm nicht vorkommt, schreibt man sich eben ein neues. Deshalb fordert die Generation 21 mit radikaler Konsequenz die Hinwendung zur Utopie im Hier und Jetzt, vertritt sie eine technizistische Ideologie der totalen Machbarkeit. Ihre moralischen Imperative sind Effizienz und gestalterischer Ehrgeiz. Besonders verabscheuen sie jene angeblich Ewiggestrigen, die seit zwei Jahrzehnten noch immer hinhaltenden Widerstand gegen die volle Ausschöpfung der humangenetischen Möglichkeiten leisten.
Auffällig an dieser Generation ist auch die Veränderung der politischen Ausdrucksformen. Vorbei die Zeit, als sich die Politik der Bundesrepublik in der emotionalen Wärme von Großdemonstrationen und Lichterketten, von Festzelten und Stammtischen ereignete. Das Netz hat diese Praktiken der Kommunikation ins Abseits gedrängt; sie sind der Generation 21 geradezu widerwärtig. Auch die politische Rhetorik hat sich gewandelt. An die Stelle von Pathos und Kämpfertum, Betroffenheit und Gefühl, sind eigentümlich kristalline Verlautbarungen in technokratischem Jargon getreten, allenfalls durch ein bisschen Sarkasmus gemildert. Vielleicht hat gerade deshalb die Träne der Angela Merkel so viel Symbolkraft gewonnen. Hoffen wir, dass Bundeskanzlerin Wagenknecht weiß, wer sie da an die Macht gebracht hat.
Hinweis:DIE GENERATION 21:Beruft sich auf Marx, aber das heißt nichts
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