: Echt was abgreifen
Wahnsinnig gerne wären alle stets in Bewegung, kreativ und wach. Doch die Wunder sind in Kathrin Rögglas präziser und supernervöser Prosa ganz schön erledigt: „Irres Wetter“
von THOMAS KRAFT
Ein Lagebericht aus Berlin-Mitte oder besser: Wahrnehmungssplitter aus einer Langzeitstudie, die ein weiblicher „prozeßbeobachter“ am Ende der 90er über Dinge und Menschen im Hauptstadt-Hype anstellt. Kein elegantes Flanieren, kein wilder Barrikadensturm und kein Taumel im Bilderrausch, wie man es aus den Berlin-Romanen der letzten hundert Jahre kennt. Sicher, es gibt noch die seltsam-verwirrten Gestalten genauso wie die hippen Szenegänger, doch beide sind mittlerweile Randerscheinungen oder ohnehin bereits im Verschwinden begriffen. Und zweifellos existieren auch noch die verschiedenen Grüppchen der Weltanschauungs- und Zeitgeistkasten, die ihre Biotope und Kodizes aufopferungsvoll pflegen und ihre eigene Party machen. Man wäre wahnsinnig gerne stets in Bewegung, kreativ und wach, doch „die konkreten wunder, die hier geschehen, sind“, um mit Kathrin Röggla zu sprechen, „ganz schön erledigt“.
In ihrem dritten Buch herrscht „Irres Wetter“, die Polkappen schmelzen in der Stadt, und man ringt nach „freiluft“. Ob Osten oder Westen, Kneipentresen oder Plattenbau, WG oder Arztpraxis, überall gibt es Anzeichen von Veränderung und Auflösung. Niemand kann mit seiner eigenen Neurose Schritt halten, man tritt auf der Stelle und wäre doch so gerne ganz vorne mit dabei. „Alltagsästhetisch“ ist man zwar „voll vorhanden“, in jeglicher Beziehung, aber man empfindet Mattigkeit statt Dynamik, möchte lieber wie Pan Tau am Hut drehen und den Geldautomaten zum Refugium erklären dürfen. Denn ums Geld dreht sich fast alles. Andere Zeichen sind wertlos geworden, da helfen auch sanfte Ironie und das erhabene Gefühl von Distanz nicht wirklich.
Klar, so suggerieren es zumindest die vielen kleinen Erzählfragmente der knapp dreißigjährigen Autorin, ein bisschen Authentizität beim Vögeln, Reden, Leben dürfte schon sein. Stattdessen „Sex im Strohhalm“, Konsumsprache und Kommerzfalle, die totale Entleerung aller Begrifflichkeiten, immer nur irgendwelche Pop-Theorien und post-post-dekonstruktivistischen Suaden, die Stadt schimmert „sony-trunken“ in einer „golf-gti-nacht“ mit „h&m-geeichten“ Menschen, allgemeine „materialermüdung“ macht sich breit.
„ach, wie kenne ich alle hypes“, seufzt die Erzählerin und wirft die Rettungsringe sinnstiftenden Erzählens über Bord. Genervt von allen Realismusdiskussionen und Partyliteraturen, gibt sie ihrer Ratlosigkeit und ihrer Trauer sprachlichen Raum. Ihre Mini-Topographien der Wohnstuben, Kneipen und Clubs dieser Stadt reflektieren diese Lebensgefühls- und Raum-Metamorphose in einem dissoziierenden, sich eher an Begriffen als an Bildern abarbeitenden Zornesausbruch. Risse, Grenzen und Trennlinien markieren inhaltlich wie formal ihre Texte, eruptive Bewegungen werden immer wieder – fast aggressiv – gestoppt. Vieles ist (noch) schwer zu benennen, denn die „dinge selbst sind ja undicht“. Und wo der Sprachfundus erschöpft ist, greift sie zur Selbsthilfe: „eurofitneß“, „kontoeinzugsmilieu“, „beobachtungsfreie kleidung“, „auseinanderbräuche“, „zielfernsehen“, „gegenwartsgepflegte menschen“, um nur einige Beispiele aufzuzählen.
Durch alle Umbrüche in dieser supernervösen Prosa schimmert der goldene Sockel des Mammons deutlich hindurch. Niemand hat mehr Geld, zumindest kein normales; man arbeitet nicht für Geld, sondern bastelt an seiner Biografie, mit deren Hilfe man dann einmal ... Ob es den Dollarwall, den Röggla zwischen den „investmentjunkies“ und all den Alltagsfantasten seitenweise aufbaut, wirklich so gibt, sei mal dahingestellt. Wo doch schon jede Oma an der Börse aktiv ist. Aber dass sich da ein immer tiefer werdender sozialer Graben durch die Gesellschaft zieht und dies in einer geschichtsträchtigen Metropole wie Berlin besonders stark zum Tragen kommt, ist offensichtlich. Schrebergarten und Pitbull-Revier sind die eine Seite der Medaille, akademisches Proletariat und eine sprach- und konsumverwahrloste Jugend besetzen vielleicht bald die andere.
In diesem Sinne trägt Rögglas präzise beobachteter, zuweilen sarkastischer Text auch moralische Töne in sich, ohne moralisierend zu wirken. Das ist keine Impressionisten-Prosa mit Assoziationsgarnitur und Glitzerbeilage, sondern ein weitgehend gut gearbeiteter Vorwurf mit politischen Akzenten.
Röggla wählt für ihre wirbelnde Stadt-Land-Mensch-Diagnose die Perspektive des aktiven Betrachters, durch den die Dinge, wie zum Beispiel das Geld, regelrecht hindurchgehen und damit sein Bewusstsein, seine Sprache verändern. Das macht auch die Qualität dieses fordernden Textes aus, „hier kannst du kulturell echt was abgreifen“.
Kathrin Röggla: „Irres Wetter“. Residenz Verlag, Salzburg 2000. 168 Seiten, 38 DM
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