: Der Beat und sein Vortrag
Wenn kammermusikalische Feinheit im sturen Viervierteltakt zusammengedroschen wird: Lou Reed kehrte zum Tourneeauftakt in Düsseldorf seine Schwächen als Performer heraus
von ULF ERDMANN ZIEGLER
Dass Lou Reed zu seinem Tourneeauftakt in Düsseldorf über zwei Stunden spielen würde, hatte schon der freundliche Veranstalter anfangs ausgerufen – eine Drohung, die Wirklichkeit wurde, als das elektrische Quartett auf der Bühne stand. Bei einem neuen Album von 78 Minuten Spielzeit ist das leicht zu erklären, jedenfalls im Fall dieses Künstlers, der sein Material für die Bühne nicht gerade mit strenger Hand ediert. Zwar meidet er die schwarze Vorzeit der Velvet Underground und nippt nur noch en passant an seinem gespenstisch erfolgreichen Werk „New York“. Dafür aber widmet er sich umso ausführlicher den Songbooks von „Ecstasy“ und „Set The Twilight Reeling“. So präsentiert er sich als Mann der Gegenwart. Eigenwillige Songs sind das, mit Monsterzeilen wie „School was the only way the army could be beat“, was in Erinnerung ruft, dass an Lou Reed ein Dichter verloren gegangen ist. Der Beat und sein Vortrag sind in keiner Weise eins.
Die besagte Zeile stammt aus „Rock Minuet“, einem atmosphärisch dichten Stück, die Gitarre heiser bis zur Unkenntlichkeit und wabernd. Das Konzert bringt uns dabei in den Genuss eines gestrichenen Solos auf einem elektrischen Stehbass, den der junge Virtuose – wenn mich nicht alles täuscht – auf ein Fotostativ geschraubt hat. Reed geht hier zurück in den Untergrund der Libido, aus dem seine eigene Legende einst geschöpft wurde. Als der Moment gekommen ist, in dem die Figur des Songs, ein unglücklicher Homosexueller, in einer New Yorker Gasse seinem Cruising-Partner die Luftröhre durchsticht, deutet Reed den Akt mit einer Geste an, die ihm aber auf Beckenhöhe gerät und deshalb nach Kastration aussieht. Das Publikum in Düsseldorf, das sich mehr über Verse freut, in denen es um das Babykriegen geht, fällt beim „Rock Minuet“ in totale Apathie, aus der es nur durch eine überdrehte Coda elektrischer Sirenentöne wieder geweckt werden kann.
Im Prinzip ist es eine Freude, einen Performer zu sehen, der ohne die Wunder der Tastengeräte über die Runden kommt. Die Platten machen geradezu einen Kult um die Möglichkeiten, mit Gitarrensounds Ambiente zu beschwören, Charaktere auf die Bühne zu stellen und Details auszuschmücken.
Für die Tournee ist das Programm erlesener Feinheiten aber zurückgestellt zugunsten einer Dynamik, die sich alsbald in Wiederholung erschöpft und in der zweiten Stunde des Konzerts nervtötenden Charakter annimmt: Auch kammermusikalisches Tonwerk wird nur vorübergehend gewürdigt, um dann als beschleunigter Viervierteltakt in Richtung Offenbarung gedroschen zu werden. Dass seine Rhythmusgruppe damit trotz gespielter Begeisterung unterfordert ist, spürt man deutlich an den raren komplexeren Stellen.
Eigentlich gibt es keinen Grund, warum ein rockorientiertes Publikum bei Klängen kurz vor der medizinischen Schmerzgrenze gezwungen wird, auf stapelbaren Holzstühlen zu sitzen wie bei der Verleihung der Abiturzeugnisse. Aber wenn es so ist, wachsen die Löffel dann ins Riesige.
Zugegeben, wir sind verwöhnt. Von Neil Young wissen wir, wie betörend der elektrische Sound zu entfalten ist, ohne ihn von der Interpretation des Songs abzukoppeln. David Byrne, dessen Undurchdringlichkeit manchmal mit der Psychogenese der Bühnengestalt Lou Reeds in Verbindung gebracht wird, hat seine frühen hämmernden Songs in barocke Gebilde südamerikanischer Gestalt verwandelt. Und wenn es darum geht, in instrumentaler Humorlosigkeit zu punkten, ist Ted Nugent ohnehin nicht zu übertreffen.
Lou Reed hatte seine großen Stunden im Sprechgesang, mit sonor vorgetragenen Fastmelodien und kleinen Ekstasen in begrenzten Registern des Grölens. Ein Sänger von Eleganz ist er immer noch nicht, und die Lärmstrategie des Konzerts kehrt alle Schwächen seiner Stimme heraus. Schon die Gewaltphantasien von „Future Farmers of America“ – der erste Song unter weißen Spots zeigen die unergiebige Verhärtung seines Pressgesangs, schneidend und im Zweifelsfall einfach akustisch begraben.
Stilistisch kann diese Band nicht bestehen. Der Gitarrist mit der Aura eines schottischen Mathematiklehrers könnte vielleicht an der Seite Ian Andersons eine gute Figur machen, aber für eine Rockband müsste er dringend einmal zu Vidal Sassoon. Reed selbst wirkt auch nicht überzeugend, wie er sich die Lederhose über dem Bauch hochzieht und ins Dunkel hinausschaut, als würde er Modell stehen für ein Baudelaire-Denkmal von Breker. Er redet kein Wort mit dem Publikum und macht sich auch keine Mühe, die Musiker vorzustellen – jedenfalls nicht vor der Zugabe, von der man sich fragt, ob das Publikum sie will oder erzwingen zu müssen meint.
Seit ich sein Tourneetagebuch gelesen habe, das um nicht mehr abzustellende Rückenschmerzen kreist, sehe ich Lou Reed nicht ohne Mitleid. Tatsächlich kann er den Rock 'n' Roll physisch nicht mehr ausdrücken, und die Steifheit und Verhärtung im musikalischen Konzept erscheint als adäquate Übersetzung einer Grenze, die der Bandleader nicht mehr überschreitet. Er wirkt wie ein Mann, der auf Therapie gegangen ist; um alles beraubt, wovon er lassen musste. Jetzt ist der Gitarrenrock der reine Ausdruck eines schmal definierten Triumphes geworden. Wie absurd, das Konzert mit einem Aretha-Franklin-Zitat zu beginnen: „Sometimes you will and then you don't“ – und es dann darauf anzulegen, jeden Anflug von Soul im Keim zu ersticken.
Lou Reed wirft noch immer jede Menge interessanter Songs heraus. Viele davon sind Auftragsarbeiten für die Bühne, und manchmal denkt man, dass alle erzählerischen Konzepte weit hergeholt sind, eher Entwürfe als Protokolle, mit einer signifikanten Vermischung von „you“ und „I“. Von dieser Songwriterenergie transportiert Lou Reed nur sehr wenig – anders als auf seiner „New York“-Tour vor zehn Jahren. Um die kleine Band kreisten den ganzen Abend die Kameras des „Rockpalasts“, und man sah gelegentlich die schwarzweißen Bilder auf ihren kleinen Schirmen. Da sah das Ganze wieder gut aus. Wenn man den Sound runterdreht und die Geste herauskehrt, restauriert sich automatisch die Ikonographie der Leidenschaft.
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