: Gegen die Allmacht des Staates
Die DDR-Opposition war sich einig in dem, was sie nicht wollte; aber keineswegs in dem, was sie wollte. Ein Sammelband legt umfassend Zeugnis von den widerständigen Kräften der Siebziger- und Achtzigerjahre ab
von ECKHARD JESSE
Die DDR-Opposition war ein seltsames Wesen. Sie war machtlos – und machtvoll zugleich. Aus ihrer Ohnmacht erwuchs allmählich Macht, und die Macht der SED schlug schließlich in Ohnmacht um. Doch deren Niederlage führte nicht zum Sieg dieser oppositionellen Kräfte. Die drei wichtigsten Organisationen („Initiative Frieden und Menschenrechte“, „Demokratie jetzt“, „Neues Forum“), die sich anlässlich der ersten und zugleich letzten demokratischen Volkskammerwahl zum Bündnis 90 zusammengeschlossen hatten, erreichten 2,9 Prozent der Stimmen; die Grünen kamen gerade auf 2 Prozent. Als mehr und mehr Menschen in der DDR nach Öffnung der Mauer die Einheit Deutschlands lautstark begehrten, wurde die Bewegung, die überwiegend an einem eigenen Staat festhalten wollte, schnell marginalisiert.
Auch die Forschung über die Opposition mutet einigermaßen paradox an. Als diese existierte, nahm kaum jemand von ihr im Westen Kenntnis – sei es, dass man zu wenig von ihr wusste; sei es, dass man von ihr zu wenig wissen wollte. Als die Forschung sich ihrer intensiv annahm, war sie längst verschwunden – und mit ihr der Staat, in dem sie sich nicht heimisch fühlte. Aus dem Stiefkind der Forschung wurde binnen kurzem deren Lieblingskind. Heute sind führende Oppositionelle in demokratischen Parteien vertreten – in der CDU (u. a. Rainer Eppelmann, Ehrhart Neubert, Arnold Vaatz), in der SPD (u. a. Martin Gutzeit, Stephan Hilsberg, Markus Meckel), beim Bündnis 90/Die Grünen (u. a. Gerd Poppe, Wolfgang Templin).
Diese Namen finden sich als Autoren in einem dickleibigen Sammelband wieder, der im Auftrage des Bundesinnenministeriums erschienen ist. Innenminister Otto Schily würdigt in einem Grußwort die Oppositionsgruppen, zeichnet mit wenigen Strichen deren Entwicklung nach. Es hat einen eigenen Reiz, dass das Unterfangen, diese Oppositionen zu erforschen, maßgeblich von den Akteuren geleistet wird – aus erster Hand und authentisch. Damit steht deren Selbstverständnis im Vordergrund.
Das in jeder Hinsicht gewichtige Werk enthält zwei Großkapitel; eines zur Rolle der Friedensgruppen zwischen 1983 und 1988, das andere zur Rolle der Opposition im Jahre 1989. Dazwischen angesiedelt ist ein Kapitel (von Bernd Eisenfeld) zur chronologisch nicht eindeutig zuzuordnenden Ausreisebewegung.
Gerade die „Abstimmung mit den Füßen“ schwächte das diktatorische Regime. Einerseits wurde die DDR zwar ein Unruhepotenzial los, andererseits wirkte es zurück und stiftete erst recht Unzufriedenheit. Wie Martin Gutzeit und Ludwig Mehrhorn allerdings zeigen, war der Einfluss auf die oppositionellen Bestrebungen gering. Ausreiser galten für diese vielfach als Ausreißer. Die Beiträge zu der Entwicklung der oppositonellen Bestrebungen zwischen 1983 und 1988 sowie im Revolutionsjahr 1989 lassen erkennen, dass aus den Friedensgruppen und Umweltschutzbewegungen mittels „Vernetzungsversuchen“ (Stephan Bickhardt) jene Strömungen entstanden, die im „deutschen Herbst“ die zentrale Rolle spielten.
Die zahlreichen Dokumente (von der Staatssicherheit und von den einzelnen Gruppen) machen gut die abgestuften Verhaltensmöglichkeiten und die Verbreiterung der oppositionellen Kräfte in der zweiten Hälfte der Achtzigerjahre deutlich. Man lese bloß den fast hundertseitigen Aufsatz von Martin Gutzeit und Stephan Hilsberg über die Gründung der SDP/SPD im Herbst 1989.
Der Band überwindet die verbreitete Berlinzentriertheit, etwa durch den Blick auf den Norden (von Heiko Lietz, der dort als treibende Kraft agierte) und den Süden der DDR (in Sachsen war die Illusion von der Reformierbarkeit des Systems geringer, wie etwa Arnold Vaatz zeigt). Hinter dem vagen Begriff des Dritten Weges verbargen sich höchst unterschiedliche Konzeptionen. Insofern war „die“ Opposition ein Phantom. Man war sich in der Ablehnung der diktatorischen DDR einig, nicht jedoch in der Bejahung der Bundesrepublik.
Gerd Poppes Definition von Opposition besticht. Danach gehörten jene zum Widerstand, die sich der Verfügungsmacht des Staates nicht unterordnen wollten – öffentlich und organisiert. Unabhängig davon, ob man sich selbst als oppositionell empfand und ob man die DDR erhalten wollte. Dieser weite Oppositionsbegriff ist treffend, denn die Machtfrage wurde erst 1989 gestellt. Allerdings gehören SED-Reformer keineswegs in die Ahnengalerie der Oppositionellen. Denn sie wollten nicht, wie Rainer Eckert belegt, die führende Rolle der SED zur Disposition stellen. Eine kritische Sicht heutiger PDS-Politiker auf diese Position stehe, so Poppe, noch aus. Implodierte die entkräftete kommunistische Diktatur oder wurde sie von der Masse hinweggefegt?
Dieser Band legt verständlicherweise starken Wert auf die Macht der Oppositionsbewegung, auch wenn etwa Wolfgang Templin die schwindenden Bindungskräfte des DDR-Systems zeigt. Im Übrigen muss zwischen beiden Positionen kein zwingender Gegensatz bestehen. Die Opposition konnte lediglich deshalb so stark sein, weil die Diktatur so schwach war. Und diese brach nur zusammen, weil die Opposition ihr zusetzte. Waren die oppositionellen Kräfte womöglich gerade deshalb so wirksam, weil sie sich auf eine Reform des Sozialismus einließen? Denn so konnten sie nicht einfach als „Konterrevolutionäre“ gebrandmarkt werden.
Was sie wollten (eine Reform der DDR), erreichten sie nicht. Was sie erreichten (deren Abschaffung), wollten sie so nicht. Doch mittlerweile ist ein Jahrzehnt ins Land gegangen. Wie dieser für die Forschung repräsentative Sammelband verdeutlicht, sehen heute einige der damaligen Protagonisten ihre frühere Position kritischer, wenn auch mehr implizit. Die über 20 Wissenschaftler und Zeitzeugen (manchmal fallen die Rollen zusammen) als Autoren sind vornehmlich Ossis, zu einem geringen Teil Wossis (erst Ost, dann West) und Wessis. Hier finden sich mit Karl Wilhelm Fricke (zur Rolle der Kommunalwahl 1989) und Hubertus Knabe (zum langen Weg der Opposition und zur Gegenöffentlichkeit) zwei Autoren wieder, die vor 1989 diese Thematik nicht ausgeblendet haben. Und Ehrhart Neubert, Autor eines Standardwerkes zur Opposition in der DDR, ist gleich mit drei Beiträgen vertreten.
Diese Namen bürgen für Qualität. Der Band ist empirienah und eher theoriefern. Kritik mag man – wegen der Vernachlässigung vergleichender Perspektiven – vielleicht an seiner Konzeption üben. Immerhin kommen in einigen Aufsätzen übergreifende Ansätze zur Sprache. So ist das Gesamtwerk viel mehr als eine Buchbindersynthese.
Eberhard Kuhrt in Verbindung mit Hannsjörg F. Buck und Gunther Holzweißig im Auftrag des Bundesministeriums des Innern (Hg.): „Opposition in der DDR von den Siebzigerjahren bis zum Zusammenbruch der SED-Herrschaft“. Leske + Budrich, Opladen 1999, 846 Seiten, 98 DM
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