: Der Segen der leeren Kassen
Nach den katastrophalen Erdbeben im letzten Jahr ist das türkische Bruttosozialprodukt um sechs Prozent gesunken. Eine Folge: Militärprogramme werden gestreckt und Atomkraftwerke sind nicht finanzierbar
ISTANBUL taz ■ Man hatte es geahnt, aber dann war es doch ein Schock. Als das zentrale Amt für Statistik im letzten Monat die Zahlen für 1999 veröffentlichte, wurde das gesamte Desaster der beiden Erdbeben, die die Türkei im letzten Jahr getroffen hatten, deutlich. Das Bruttosozialprodukt des Landes war im Vergleich zum Vorjahr um sechs Prozent gesunken. Das Entsetzen über das schwärzeste Jahr für die türkische Wirtschaft seit Jahrzehnten hatte in einigen Bereichen allerdings durchaus heilsame Wirkung. Vor allem die Beschaffungsprojekte der Militärs geraten unter Druck. Das Modernisierungsprogramm der türkischen Armee, das in den nächsten zehn Jahren bis zu 100 Milliarden Dollar kosten sollte, wird es wohl so nicht geben.
Bereits bei den Verhandlungen mit dem Internationalen Währungsfonds im Dezember war das Militärbudget als großer Inflationsfaktor kritisiert worden. Nachdem die türkische Regierung sich für einen Vier-Milliarden-Dollar-Kredit auf ein strenges Antiinflationsprogramm verpflichten ließ und dann die schlechten Zahlen von 1999 auf dem Tisch lagen, war auch der Rüstungshaushalt kein Tabu mehr. Das erste Opfer waren neue Kampfhubschrauber, die für vier Milliarden Dollar angeschafft werden sollten. Die Entscheidung darüber, welcher der Bieterkonzerne den Zuschlag bekommen soll, wurde mehrfach verschoben und soll nun im Sommer erfolgen. Tatsächlich ist es wohl so, dass es in diesem Jahr dafür überhaupt kein Geld gibt und das gesamte Projekt weiter gestreckt wird.
Dasselbe zeichnet sich zur Freude der Bundesregierung in Berlin bei der Beschaffung von 1.000 neuen Kampfpanzern ab. Statt, wie ursprünglich angedroht, im Juli, soll eine Entscheidung über Leopard-II-, amerikanische M1-A2- oder urkrainische T-84-Panzer jetzt erst Ende des Jahres fallen, wobei man getrost davon ausgehen kann, dass es auch noch ein paar Monate länger dauern wird. Stattdessen kümmert sich das Heer im Moment erst einmal um die Modernisierung ihrer vorhandenen Panzer. In Israel sollen die alten Modelle aufgepeppt werden.
Die leeren Kassen zwingen aber nicht nur das Militär zu ungewohnter Zurückhaltung, auch ein weiteres gefährliches Prestigeprojekt könnte dem Rotstift zum Opfer fallen. Seit Jahren wird in der Türkei über den Bau eines Atomkraftwerkes als Einstieg in die Nutzung der Nuklearenergie diskutiert. Das erste von insgesamt zehn AKWs soll am Mittelmeer östlich von Antalya in Akkuyu gebaut werden. Was jahrelange Proteste, die Hinweise auf Erdbebengefährdung und die weltweite Abwendung von AKWs nicht vollbrachten, schafft jetzt der Sparzwang. Auch die Entscheidung über den Bau wurde mehrfach verschoben. Bei der letzten Kabinettsberatung über Akkuyu sagte der Finanzminister dann ganz offen, dass zur Zeit einfach kein Geld für ein AKW aufzutreiben ist. Das Vorhaben ist deshalb nicht endgültig vom Tisch, dürfte aber erst einmal für ein Jahr von der Prioritätenliste gestrichen sein.
JÜRGEN GOTTSCHLICH
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen