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Auf die Russen kommt es an

In der Jüdischen Gemeinde hat der Kampf um die Nachfolge des Vorsitzenden Andreas Nachama schon begonnen. Doch einen Favoriten für den harten „Managerjob“ gibt es noch nicht

von PHILIPP GESSLER

Nein, es war doch kein „Bluff“, wie anfangs völlig überraschte Gemeindemitglieder noch vermutet hatten. Er will auch nicht bloß noch mal gebeten werden, wie andere öffentlich oder hinter vorgehaltener Hand spekulierten – Andreas Nachama hat sich entschieden: Der 48-jährige Historiker will nur noch bis zur nächsten Wahl am 18. März 2001 Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde zu Berlin sein.

Das sei „kein taktischer Winkelzug“, wie sein Stellvertreter Moishe Waks betont. Nach knapp drei Jahren im Amt will Nachama zurück auf seinen früheren Posten als Direktor der in arge Finanznot geratenen Gedenkstätte „Topographie des Terrors“. Diese bezeichnet er als sein „Lebenswerk“, und das soll nicht vor die Hunde gehen. Aber auch die ineffiziente Arbeit in den Gemeindegremien hat ihn entnervt: „Das ist nicht mein Leben auf Dauer“, sagte er der taz.

Dabei kann sich Nachamas Bilanz sehen lassen. Selbst der von ihm gekündigte liberale Rabbiner Walter Rothschild betont, Nachama sei „sehr erfolgreich“ gewesen: Als erster Vorsitzender, der nicht mehr den Holocaust erlebt hat und deshalb als Hoffnungsträger der Jungen galt, sei es ihm gelungen, die vorher heillos zerstrittene größte Gemeinde Deutschlands wieder zu beruhigen. Bei einem Jahresetat von 43 Millionen Mark wurde das Defizit von 3,5 auf nur noch 0,5 Millionen Mark reduziert. Nachama schloss Sicherheitsverträge mit dem Senat ab. Erstmals seit 1945 gab es unter ihm wieder Abiturienten an der Jüdischen Oberschule (der einzigen in Deutschland), eine Sozialstation für alte Gemeindemitglieder wurde eingerichtet, ein regelmäßiger egalitärer Gottesdienst in der Oranienburger Straße etabliert.

Zuwanderer aus Russland verändern die Gemeinde

Ein Problem aber konnte er nicht lösen, weil es dazu eine Generation Zeit bräuchte: die Integration der jüdischen Zuwanderer vor allem aus der GUS. Durch sie verdoppelte sich seit Anfang der 90er-Jahre die Zahl der Gemeindemitglieder auf etwa 12.000. Sie stellen mittlerweile etwa zwei Drittel der Mitglieder. Da viele von ihnen in den sozialistischen Staaten des Ostens kaum religiös erzogen wurden, brechen seitdem „festzementierte Gemeindestrukturen und religiöse Orientierungen“ auf, wie der Soziologe Michal Bodemann analysiert. Hinzu kommt, dass die meisten „Russen“ eher schlecht als recht Deutsch sprechen, viele arbeitslos sind und sich nur wenige von den Alteingesessenen voll akzeptiert fühlen: Die „Russen“ in die Gemeinde einzubinden, wird eine der Hauptaufgabe von Nachamas Nachfolger(in) sein.

Und: Wer die „Russen“ gewinnt, hat gute Chancen, Gemeindevorsitzender zu werden. Das Problem ist, dass sie kaum in die alten Kategorien der religiösen Strömungen passen: Einerseits war das osteuropäische Judentum bis zur Shoah eher traditionell geprägt. Andererseits stehen die meisten heute eher liberalen Traditionen nahe, da die Zuwanderer jahrzehntelang von einer atheistischen Staatsdoktrin geprägt wurden.

Die Liberalen haben sich schon mal aus der Deckung gewagt: Der Rechtsanwalt Albert Mayer (52) sagt, er könne sich vielleicht eine Kandidatur vorstellen. Doch er will nur als eine Art Ehrenvorsitzender antreten, da er seine bisherige Arbeit nicht aufgeben will. Ihn unterstützt der Leiter des Moses-Mendelssohn-Zentrum für jüdische Studien in Potsdam, Julius Schoeps, der einen Vorsitzenden deutscher Herkunft präferiert.

Nachama hält solche Kategorien für veraltet – sie stammten aus dem vorigen Jahrhundert und spielten doch heute keine Rolle mehr. Schoeps’ Lieblingsgegner Waks hält dieses Kriterium gar für „fatal“: Dadurch würde die Mehrheit der Gemeindemitglieder ausgegrenzt. Er selbst geifere nicht nach dem Vorsitz, erklärt der 47-jährige Leiter eines Hausverwaltungs-Unternehmens. Aber er würde sich einer solchen „Verantwortung“ auch nicht entziehen, wie er betont. Außerdem verstehe er sich selbst nicht als „deutscher Jude“, sondern als „Jude in Deutschland“.

Das würde auch auf einen weiteren möglichen Kandidaten zutreffen, der immer wieder genannt wird: den Sicherheitsdezernenten der Gemeinde, geborenen Israeli und Immobilienunternehmer Meir Piotrkowski (57). Er wird von konservativer Seite zur Kandidatur gedrängt, hat aber offenbar eher keine Lust. Auch Rafael Korenzecher (52), ebenso in der Immobilienbranche, wird von Konservativen ins Spiel gebracht – für Liberale wäre er ein rotes Tuch.

Nachama selbst will in den kommenden Monaten noch andere Persönlichkeiten ansprechen, ob sie sich nicht die Aufgabe zutrauen. Die Lösung Michel Friedman aus Frankfurt/Main, der schon vor drei Jahren im Gespräch war und jüngst auch als möglicher Nachfolger des verstorbenen Zentralratspräsidenten Ignatz Bubis gehandelt worden war, ist nicht mehr möglich. Seit kurzem dürfen nur noch Kandidaten, die mindestens seit einem Jahr Gemeindemitglieder sind, antreten – das ist zu knapp für Friedman.

Das Rennen ist also noch völlig offen. Auch wegen des Wahlverfahrens: Denn der Gemeindechef wird von den Mitgliedern des Vorstands gewählt, die wiederum in der Repräsentantenversammlung, dem Gemeindeparlament, bestimmt werden. Darin liegen viele Unwägbarkeiten. Die Truppen stehen da noch lange nicht, und so wird jetzt schon darüber diskutiert, wieder zur 1997 abgeschafften Listenwahl zurückzukehren, um Mehrheiten für einen Kandidaten zu ermöglichen.

Die Wahl des Nachfolgers ist noch völlig offen

Klar ist, dass das liberale Judentum Berlins, das seit der Weimarer Republik eine große Tradition in der Hauptstadt hat, Schwierigkeiten bekommen könnte. Es ist kein Zufall, dass der liberale Rabbi Rothschild ohne nennenswerten Widerstand in der Repräsentantenversammlung gekündigt werden konnte. Auch die Entscheidung, die Mitgliedschaft in einem weltweiten Zusammenschluss liberaler Gemeinden ruhen zu lassen, ist ein Symbol für diese Tendenz. Das werde ein orthodoxe Gemeinde, unkt Schoeps bereits.

Sein Mitstreiter Mayer meint sogar, dass diese Spannungen zwischen Liberalen und Konservativen mittelfristig zu einer Spaltung der Gemeinde führen würden. Rothschild kolportiert, einige erwägten bereits die Gründung einer liberalen Zweiggemeinde, die das bisherige Prinzip der Einheitsgemeinde sprengen würde. Waks hält diese Ängste für überzogen: Das habe man schon vor der letzten Wahl befürchtet. Und den Satz Friedmans, die Gemeinde sei in einer strukturellen Krise, kommentiert ein Repräsentant nur trocken: „Vielleicht hat Friedman die Krise.“

Dennoch bedarf es keiner prophetischen Gabe, um vorauszusehen, dass der Job für das neue Gemeindeoberhaupt eher belastender werden wird. Nachama hat immerhin den „Managerjob“ (Rothschild) der Leitung einer Gemeinde mit 400 Mitarbeitern mit einiger Bravour gemeistert. Er hat den Laden zusammengehalten und der Gemeinde in der Öffentlichkeit immer wieder respektables Gewicht verliehen. „Es ist relativ anstrengend, in der ersten Reihe zu sitzen“, sagt Nachama heute – und ein Leben in Panzerlimousinen ist auch nicht immer verlockend. Wer sehnt sich danach? Gut möglich, dass Kritiker Nachamas ihm schon bald eine Träne nachweinen.

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