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Keine Kühe, keine Kondomautomaten

Ob Isländer in Island Urlaub machen würden, wenn sie keine Isländer wären? Die Besonderheiten einer Landschaftvon BARBARA BACHER

Noch eine halbe Stunde bis zur Busabfahrt nach Stykkisholmur. Warten im nieselverregneten Borgarnes.

Als uns heute Morgen Gudrun aus Brekkulaekur hier absetzte, war ich noch voller Optimismus, dachte, dass wir den Tag mit interessanten Erkundungsspaziergängen gut rumbringen würden. Doch Borgarnes, das saubere Städtchen mit viel weißem Beton für seine 1.800 Einwohner, langweilte. Ein Rathaus, eine Bank, eine Post, ein Supermarkt – das ist gewiss mehr, als andere Orte bieten, die nur über eine Tankstelle und eine Kirche verfügen. Dass es ein thermalbeheiztes Schwimmbad gab, braucht man eigentlich nicht zu erwähnen. Islands Primärenergie wird bekanntlich generell zu zwei Dritteln aus hydro- und geothermalen Quellen gedeckt, so trifft man überall, wo drei Häuser stehen, auf ein Bad.

Am taglichten Abend sitzen wir den Rest der Zeit bis zur Busabfahrt in dem gläsernen Selbstbedienungsrestaurant ab, das einer Esso-Tankstelle angegliedert ist und an der Nationalstraße 1 liegt. Das Foto der allseits beliebten ehemaligen Präsidentin, Vigdis Finnbogadottir, hängt neben dem Eingang. Fast-Food-Gerichte der besseren Art gehen über die Theke. Ein einfacher Hamburger mit Tomatenscheibe kostet ca. 15 Mark. Klaus tunkt Franskur kartöflur (Pommes frites) in ein kleines mit Mayonnaise gefülltes Plastiknäpfchen. Viele einheimische Familien und auch Touristengruppen mit Kameras vor dicken Bäuchen strömen herein. Ich ziehe meine Liste isländischer Besonderheiten hervor. „Was es in Island nicht gibt: Badestrände am Meer, Schrebergärten, Kuhfladen auf dem Asphalt, schmale Gassen mit Wäsche behängten Leinen, fahrende Autos ohne Licht, Militär und Wehrersatzdienst, große Werbeplakatflächen für z.B. Damenreizwäsche oder Autos, Züge und U-Bahnen, Autostaus, Zigarettenautomaten.“ Ich vermisse die herrlich frischen Salatteller der italienischen Küche auf den hiesigen Speisekarten. In Islands Gewächshäusern zieht man nur Gurken und geschmacklose Tomaten groß. Vieles muss eingeflogen werden. „Ob es in Island Dialekte gibt?“, überlegt Klaus, der sich gern als Franke outet. „Gibt es Bäcker?“, frage ich. Hier in Borgarnes wie auch in vielen anderen kleinen Orten zuvor haben wir keinen gesehen.

Bisher hatten wir es hauptsächlich mit der menschenleeren Landschaft aufgenommen – waren mit einem gemieteten Geländewagen durch reißende Gebirgsbäche, an zischenden Geysiren, sprühenden Wasserfällen und scheuen Schafen vorbeigekurvt. Schließlich waren wir auf einer schwarzen Lava-Sandebene sogar in einen Sandsturm geraten, wobei wir stumm die Fahrradfahrer bewunderten, die mit viel Gepäck mühsam gegen die Sandböen antraten. Im Krafla-Gebiet, einer sehr aktiven Vulkangegend, waren wir über fauchende rauchende Schwefelspalten wie durch Teufels Küche gestiegen und hatten über schnurgerade „Weglaufstraßen“ (für die schnelle Evakuierung bei einem Vulkanausbruch) wieder die Küste gesucht.

Das Warten auf den Bus macht dröge. Ich muss gähnen. „One more coffee for the road?“, fragt Klaus. Neue Gäste drängen gehäuft herein, stehen geduldig Schlange. Blondgeschopfte Mädchen rennen mit rudernden Armen um eine Tischgruppe. Gelegentlich flackt das Geschrei eines kleinen Kindes auf. Trotz all der Lebendigkeit läuft der Betrieb reibungslos. Island erscheint mir sehr kinderfreundlich. Überall, ob in Bankfilialen, Postämtern, Supermärkten oder Tankstellen, findet man einen niedrigen Tisch mit Legobausteinen. Lange wird es wohl nicht mehr dauern, bis Island, das laut meinem Reiseführer nur 270.000 Einwohner zählt, bald das Doppelte bis Dreifache als Bevölkerungszahl nennen wird.

Ein größerer Monitor über der Essensausgabe strahlt jetzt das abendliche Fernsehprogramm aus. Ein Stock fährt über eine Wetterkarte. Die Wettervorhersage wird von der Ansage der jungen Bedienung übertönt, die über Mikrofon die Nummern der bestellten Speisen ausruft. „Fortinfünftingstön“ oder so ähnlich. Im übrigen Europa herrschen Hitzetemperaturen um die 30 Grad und mehr. Wir hatten heute 14. Eine Art Tagesschau folgt. Dann Werbung, die aber nicht aus marketingmäßig ausgefeilten Videoclips à la Dr. Oetker besteht, sondern das ästhetische Format einer kostenlosen Stadtanzeigerreklame einhält.

Der Bus kommt pünktlich um 20.45 Uhr. Das Warten hat sich gelohnt. Wir hätten keinen idealeren Zeitpunkt für eine Fahrt in den Sonnenuntergang wählen können. Sonnenstrahlen teilen sich an einem Gipfel und überziehen fächrig den welligen Hang mit ihren warmen Farben. Gelegentlich stoppen wir an einem schmalen Schotterweg, der zu einem Haus am Fuß eines Berges abzweigt. Ein Päckchen wird niedergelegt. Der Fahrer greift zu seinem Telefon, während er wieder losfährt. Die Bewohner werden über die hinterlegte Sendung benachrichtigt.

Im großen modernen Bus, der direkt auf die tief stehende Sonne zurauscht, sitzen wir in der ersten Reihe. Das Verdeck des Himmels gestaltet sich fransig. Wolken haben sich wie rosa Zuckerwatte auf die Berge gelegt. Im buckligen Wiesengrün rechts erhebt sich schillernd ein farbiges Band. Eruption? Der neueste Ausbruch eines Vulkans? Nein, der Stummel eines Regenbogens. Einfache Feldsteine werfen übergroß verlängerte Schatten. Bemooste Kuppen werden zu vergoldeten Reliefs. Die nächste Regenfront lauert rechts vom Busfahrer. Das ideale Motiv für eine Panoramakamera bieten jetzt drei Bergrücken, die in drei verschiedenen Wettern stehen. Der erste ist kupferfarben vom beinahe waagrechten Sonnenlicht überzogen, der mittlere verbirgt sich hinter einem hellgrauen Regenschleier, und die Spitze des letzten ist bis zum Hals von weißem Nebel umhüllt, als ob er überschäume.

Die menschenleeren Höhen von Snaefellsness (gespr.: Sneifetls-neß) auf dem Weg zur Nordküste hat unser Bus nach zwei Stunden überwunden. Beim Aussteigen in Stykkisholmur fällt uns eisige Kälte an. 1 Grad minus, und das im Sommer, im August. Nach einem kurzen Hafenerkundungsspaziergang treibt uns der scharfe Wind zum „Black Death“, einem starken isländischen Kümmelschnaps, in Knudsens Restaurant.

Am nächsten Morgen halten sich die Wolken nur noch an den fernen Gebirgsrändern fest. Wir wollen einen Ausflug zur kleinen Insel Flatey machen. Unser Schiff, das sonst zu Walbeobachtungen ausläuft, liegt sonnenbeschienen am Kai. Eine Gruppe junger Leute mit Rucksäcken, Schlafsäcken und mit was wohl sonst noch gefüllten schwarzen Müllsäcken steigt an Bord und verschwindet unter Deck. Sind das Schüler, die ihre Ferienarbeit im Naturschutzgebiet auf Flatey machen werden? Alle isländischen SchülerInnen gehen acht Monate im Jahr zur Schule und arbeiten pflichtgemäß weitere zweieinhalb, meist für den Fremdenverkehr.

Wir stehen in frischer Brise an Deck, als ein Junge in übergroßer Militärhose uns eine Tüte mit Bonbons entgegenhält. Ob wir schon die ganze Fahrt über hier draußen in der Kälte stehen würden, will er wissen. Lutschend lernen wir Gunnar kennen. Eine Millionenstadt wie München oder Berlin, das konnte Gunnar sich nicht vorstellen. Leben doch in ganz Island gerade nur so viele Menschen, dass sie inklusive gelber Seiten in ein einziges Telefonbuch passen, vergleichsweise so dick wie das Münchner Telefonbuch von A–K. Tja, und alle Isländer sind nach Vor- und nicht nach Nachnamen sortiert.

Als wir auf der Insel Flatey anlegen und an Land gehen, begrüßt uns ein sommersprossiges Mädchen mit roten Haaren im weißen T-Shirt und heißt uns willkommen zu einer Inselführung. Der beeindruckend verfallene große Holzschuppen am Kai, erklärt sie, sei eine ehemalige Fischverarbeitungsfabrik gewesen. Erst 1948 erbaut, lag sie bereits zwei Jahre später brach. Das war, als die Heringsschwärme ausblieben. Der ganze Nordwesten Islands sei einst davon betroffen gewesen. Dort „oben“ in den Fjorden wurden ganze Siedlungen verlassen, die Häuser, noch immer teilweise mit Mobiliar bestückt, stehen leer. Auf meine Frage, warum es plötzlich keine Heringe mehr gab, konnten weder sie noch viele andere, die ich bislang interviewt habe, mir eine Antwort geben. Dass Island seine Fischereizonen seit 1952 von 4 auf 200 Seemeilen erweitert hat, scheint nur zu gut verständlich. Und der Export von Fisch war es hauptsächlich, der das Land in den letzten fünf Jahrzehnten endlich aus jahrhundertelangen mittelalterlichen Armutsbedingungen geholt hat.

Auf Flatey hätten Ende der Vierzigerjahre viele Menschen gewohnt, erklärt unsere Führerin. Heute leben, erzählt sie, 15 Menschen ganzjährig auf Flatey. Alle weiteren Häuser würden nur in den Ferien benützt. Die jungen Leute vom Schiff stapfen mit ihren Plastiksäcken an uns vorbei. Jungs mit grellgrün oder gelb gefärbten kurzen Haaren oder Rastamützen, Mädels auf Plateausohlen sitzen oder stehen vor einem Häuschen linker Hand. Gestern hätte es hier ein großes Fest gegeben, erzählt unsere Führerin, und heute Abend werde noch mal eins steigen. Man würde heute Abend viel Musik mit Ziehharmonika spielen. „Das geht so gut rein“, sagt sie und macht dabei mit angewinkelten Armen leichte Tanzbewegungen. Wir schlendern weiter über die kleine Insel. Die Küstenseeschwalben umfliegen uns kreischend. Kria heißen sie auf Isländisch, genauso wie die Schreie, die sie ausstoßen: Kria, Kria! Man darf nicht vom Weg abweichen, sonst greifen sie einen an. Wie letztlich an den Stockfischgerüsten bei Husavik. Aggressiv stürzten sie auf uns herunter und stoppten erst einen halben Meter über dem Kopf. Man halte am besten einen Stock in die Höhe, sagt unsere Führerin, denn Krias gehen immer auf den höchsten Teil eines Menschen oder den Größten einer Menschengruppe los.

Auf dem Schiff zuvor fühlte ich mich in Daunenweste und Windjacke sehr wohl, jetzt aber strahlt die Sonne derart, dass ich sommerlaunig ein paar Hüllen von mir pelle. Beim Anblick der Flateybewohner, die kurzärmelig vor ihren Häusern Siesta halten, wird mir jedoch nicht so heiß, dass ich gar wie manche der isländischen Frauen nur im BH durch die Gegend spazieren möchte. Aufgeschlossen freundliche Ferienstimmung beherrscht die Atmosphäre. Man grüßt und nickt kurz im Vorübergehen.

Abends genießen wir, zurück in Stykkisholmur, besten Gaumenschmaus. Während Klaus eine Brühe aus einheimischen Flechten zum Hors d'Oevre löffelt, ergänze ich meine Liste isländischer Seltenheiten: Feuerwehreinsatzwagen, Fernseher im Hotelzimmer, Kondomautomaten, Kühe, Bäume, Gebüsch für die Notdurft im Freien und – unfreundliche Isländer.

Hinweis:Leben doch in ganz Island gerade nur so viele Menschen, dass sie inclusive gelber Seiten in ein einziges Telefonbuch passen, vergleichsweise so dick wie das Münchner Telefonbuch von A – K

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