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Das sind unsere 15 Sekunden!

Goldene Zeiten für Literatur (II): Gibt es eine neue Generation deutschsprachiger Literatur? Und wenn es sie gibt – sollte man nicht auf die Ausnahmen achten? Und wie viele 15 Sekunden hat ein Schriftstellerleben? Über das große Verschwinden und die große Wiederkehr im gegenwärtigen Erzählenvon TERÉZIA MORA

„Er erzählt (. . .), er kenne meine Generation. Antworten dürfe man nicht erwarten. Von welchen, die weder drin noch draußen sind. Verstehst du mich, zwinkert er mir zu. Verstehst du: weder drin noch draußen. Ja, sage ich. Wer weiß, was er schon wieder gesagt hat. Aber ich widerspreche ihm nicht.“

Ich zitiere mich selbst (unbescheiden genug, aber dafür wenigstens genau). In der Erzählung „Ein Schloss“ trifft ein Mann mittleren Alters auf ein junges Mädchen und kategorisiert sie gleich als „Generation“. „Meine Generation“, das ist nichts, was sie über sich sagen würde, aber sie widerspricht nicht, denn in diesem Schloss, in dem sie sich treffen, ist der Mann mit dem Holzbein die dominante Ordnung, die das Mädchen dort festhält.

Auch ich widersetze mich nicht. Ich wurde zu dem Symposium „Literatur und Generation“ eingeladen als jemand, der „in der vordersten Reihe“ einer „neuen literarischen Generation“ steht, und ich bin gefolgt, um meine Sicht der Dinge darzulegen. Meine Sicht der Dinge. Da macht mir die „vorderste Reihe“ doch ein wenig Schwierigkeiten, denn man hat eine eher schlechte Sicht, und leicht bekommt man Kopfschmerzen. Ich soll über ein virtuelles Wir reflektieren, das ich nur erahnen kann. Zum Glück muss ich ja nicht mit Antworten aufwarten. Nicht mit der „Wahrheit“, danach fragt zum Glück schon lange keiner mehr.

Zum Beispiel war ich neulich eingeladen zu einer Diskussionsrunde im Fernsehen. Vier Vertreter der jüngsten Generation aktueller deutscher Literatur waren eingeladen. Schön in Pepita gesetzt, Junge, Mädchen, Junge, Mädchen. Je zwei „Preisträger“ und zwei „aus der Szene“. Ursprünglich war gedacht, wir würden darüber reden, was in den letzten hundert Jahren deutscher Literatur (für uns) von Bedeutung war, über die Generationen vor uns also. Aus Höflichkeit wurde der eine oder andere Name genannt (Kafka, Der Spiegel, Grass – in dieser Reihenfolge), doch im Großen und Ganzen verlief sich dieser Teil der Diskussion in allgemeinem Schulterzucken.

Mit dem Vergangenen hatten wir also nicht so besonders viel am Hut, es ging uns – in unseren Geschichten wie auch im Leben – um das „Jetzt“, die „Gegenwart“ und natürlich, und darüber sollten wir uns also äußern: um („uns“) selbst – und dieses „uns“ habe ich in Anführungsstriche gesetzt, außerdem kursiv und in Klammern. Denn was auch gesagt wurde in dieser Runde, sei es von meinen Kollegen, sei es vom Leiter des Gesprächs, all das, was die „Jungen“ charakterisieren sollte – sie sind nichtexperimentell, narrativ, nichtideologisch, nichtintellektuell, leicht lesbar, der Popkultur nahe stehend etc. –, bei jedem einzelnen dieser Attribute musste ich denken: Das trifft für mich nicht zu. Schließlich sagte ich es auch, und der Moderator sagte: Ja, du bist die Ausnahme. Ich schreibe also hier als die Ausnahme über die behauptete Regel, die ich bekräftigen soll.

„Neue GENERATION deutscher Literatur“ – selbst wenn noch keiner genau weiß, was das sein soll, selbst wenn es sich vielleicht nie herausstellen wird, es hört sich, zugegeben, gut an. Und als Schreibende habe ich eine Schwäche für alles, was sich gut anhört. Und auch wenn ich mich von diesem Zynismus verabschiede, muss ich zugeben, dass mir diese Bezeichnung „neue Generation deutscher Literatur“ tatsächlich eine Metapher zu sein scheint, die erfolgreich werden könnte. Die Parameter für die Entstehung, nein, sagen wir, Behauptung einer neuen Generation sind gerade günstig. Diese Situation ist hauptsächlich auf außerliterarische Gründe zurückzuführen, konkret auf jenen klar wahrnehmbaren Bruch politischer und technologischer Art, der sich vor etwa zehn Jahren vollzog und die Nachkriegszeit beendete.

Hier muss eine neuerliche Zäsur, eine weitere Anekdote eingefügt werden. Im direkten Umfeld der eben erwähnten Diskussionsrunde äußerte ich die Behauptung, 1989 sei „eine Welt untergegangen“. Und dass wir alle ab diesem entscheidenden Termin anders leben und anders schreiben würden als davor. Worauf ein Kollege aus dem Westen die Asche von seiner Zigarette tippte und sagte: Für mich nicht. Danach sagte ich nicht mehr viel an jenem Abend. Ich dachte darüber nach, wie es mir möglich sein könnte, nicht schockiert zu sein über diesen Satz. Dieser Moment der Irritation machte mich auf intensivste Art auf ein bis dahin unvermutetes Problem aufmerksam. Machte ich mir Illusionen und wurde die Welt durch diesen Bruch doch nicht etwas weiter zusammengefügt? Leben wir doch nicht in derselben Welt? Oder sah mein Kollege etwas nicht? Oder wollte er vielleicht nur nicht darüber diskutieren?

Eine Welt ist untergegangen, aber viele andere gibt es noch, und mich gibt es auch noch. Was soll man dazu schon groß sagen als genau das: Sum. Ich existiere. Darüber schreiben wir doch im Endeffekt. Darüber, was ist. Darüber, was sein könnte, im Moment nicht so sehr. Ist es das, was das „uns“ ergibt? Einfach die Tatsache, dass es uns nun einmal gibt? Es gibt tatsächlich einen quantitativ messbaren Anstieg von „Jungheit“ in der gegenwärtigen deutschen Literatur (wie schon seit geraumer Zeit in der Weltkultur überhaupt). Jungsein, das ist immer gut, und es lässt sich noch relativ gut umreißen. Sagen wir, Benjamin Lebert gehört vom Alter her auf jeden Fall zu dem, was man „jung“ nennt, und auch alle Frauen unter dreißig, und dann, am anderen Ende der Zeitskala vielleicht noch Rainald Goetz.

Es ist also Jugend da. Aber: Wann ist eine Gruppe in etwa gleichaltriger Menschen/Literaten denn schon eine Generation? Was für Kriterien für eine Generation legt man an? Und vor allem, es heißt ja „neue“ Generation deutscher Literatur. Was ist das Neue? Gibt es Neues? Gibt es ein gemeinsames Neues? Oder gibt es nur neue Personen?

Eine Kollegin, die seit 30 Jahren publiziert, äußerte sich mir gegenüber nachdenklich über die Tatsache, dass man neuerdings so tue, als ob jene, die schon seit langem sprechen, nichts Relevantes mehr zu sagen hätten. Hier ist eben nicht alles gleich viel wert. Vor zehn Jahren wurde eine Grenze überschritten. Das Zepter gelangte in die Hand der Nachgeborenen. Und diese traten im Plural auf. Es wurden verschiedene medial gut verwertbare Gruppen ausgerufen. Die Fräuleins, die jungen Wilden. Im Moment erwartet man auch viel von den „Randgruppen“: Ausländer, Ossis (und auch hier, natürlich, wieder die Frauen). Die Grenzgänger sind also gefragt, mit ihrem Eklektizismus in Sprache, Kultur, Weltanschauung scheinen sie der Generation X der Nichtklassifizierbaren am besten zu entsprechen (wobei man sie damit schon wieder klassifiziert hat).

Die große Wiederkehr setzte ein. Während die Philosophen vom Verschwinden des Körpers sprachen (und sie haben zweifellos Recht damit), tauchten sie in den literarischen Texten wieder auf. Die Ichs. Die Subjekte. Und mit ihnen der Wunsch, Ordnung ins Chaos bringen. Geschichten mit Anfang, Mitte, Ende. Kommunikation statt Provokation. Neokonservativismus. Und irgendwie schienen alle erleichtert zu sein. Endlich glaubte man von etwas zu wissen, was es denn ist. Es ließ sich wieder etwas definieren. Wenn auch nicht endgültig (hoffentlich nicht endgültig). Diese ganze Aufregung könnte aber gut ein Zeichen dafür sein, dass man sich tatsächlich auf den Weg gemacht hat irgendwohin.

Vielleicht zu einem neuen Literaturbegriff. Denn eine neue Generation zu kreieren bedeutet, einen eigenen Literaturbegriff zu definieren. Und da fragt es sich: Befinden sich Feuilleton, Literaturwissenschaft und Literatur wirklich auf dem Weg dorthin? Die Literaturkritik ist von einer Erwartung dominiert, die sich – als eine Art Umkehrschluss der medialen Präsenz des Autors – in erster Linie auf das Argument des Biografischen und daher (vermeintlich) Authentischen stützt, als könne und dürfe ein Autor nur das beschreiben, was er persönlich erlebt hat. Authentisch wie ein Talkshow-Gast. Und wo bleibt der Wille zur Form? Was ist die Fantasie wert? Warum soll ich mir nicht vorstellen können, wie es in dem älteren Herrn dort aussieht oder in einem siamesischen Zwillingspaar oder einem Bienenschwarm? Bin ich nicht Schriftsteller geworden, um mehr zu sein als mein Körper, mein täglich Leben?

Doch schieben wir den schwarzen Peter nicht allein der Kritik zu. Wie sieht es denn aus mit der Einstellung der Literatur zu sich selbst? Zunächst ist festzustellen, dass die „Literatur“ auch ein Pluralbegriff ist. Es gibt zwar hier und da die künstliche Erregung über einen vermeintlichen Konflikt zwischen den (literarischen) Altachtundsechzigern und ihren Kindern, zwischen „Preisträgerliteratur“ und . . . eben der anderen.

Aber diesen Konflikt gibt es nicht wirklich. Der Tod des Goldhamsters, im Tagebuchstil beschrieben, ist gleich viel wert wie die poetische Analyse des Holocaust. Verschiedene Sportarten – aber alle im selben Stadion.

Die neue Literatur. Es gibt sie im Plural. Und sie findet wieder verstärkt in der Öffentlichkeit statt. Eine Performance mit Tim Staffel, bestehend aus Lesung, Video, Musik und Techno-Mix, kann die Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz in Berlin füllen. Literatur als Ereignis. Multimedial, nicht wahr. Nicht dass das unbedingt neu wäre. Es scheint im Moment bloß eine größere Aufmerksamkeit zu genießen. Die Deutschen lernen das Merchandising. Eine Regenjacke mit dem Schriftzug „Sonnenallee“ geht für hundert Mark weg. Es ist schließlich Kapitalismus.

Es scheint so, dass nach so vielen Fremddefinitionen nun auch auf der Seite der „Betroffenen“ das Bedürfnis entsteht, sich als Generation (oder eben nicht) zu definieren. Vor allem, wie mir scheint, aus lobbyistischen Gründen. Eine Generation, das ist nur noch wenige Schritte von der Institution entfernt, eine einigermaßen stabile Wagenburg – sofern man sich drinnen befindet, hat man eine Chance, (gemeinsam) zu überleben. Pech natürlich für die, die nicht die gleiche Uniform tragen, sich irgendwo an den Rändern herumdrücken – möglicherweise überleben sie auch, aber für sie wird es keine Parade geben, das steht nur dem Heer zu. Und warum sollte das schlecht sein? Wer wollte so snobistisch sein? Zugegeben, etwas beunruhigt bin ich schon. Es fällt mir doch immer wieder ein, dass dieser Moderator zu mir gesagt hat: Du bist die Ausnahme.

Die neuen Technologien stehen dagegen – zumindest in diesem Teil der Welt – mehr oder weniger jedem zur Verfügung. Auch die Schriftsteller probieren sich in ihnen, mit ihnen aus. Manchmal auch gemeinsam, wie in den Internetprojekten „Null“, „Pool“ oder der „Softmoderne“. Die Lehren, die bis dato daraus gezogen werden konnten, waren eher ernüchternd. Ab und zu begegnete man sich in diesem riesigen virtuellen Raum, es gab Berührungspunkte, aber fast nur so, wie zufällig Teilchen aufeinandertreffen. Vor allem aber hat sich gezeigt, dass wir noch sehr am Anfang stehen, mit dieser Technik zu arbeiten. Der eine oder andere Hyperlink, nun gut. Ich denke, die neuen Formen, falls es sie geben wird, stehen uns noch weit bevor. Und erst das Auftauchen wirklich neuer Formen würde einen wirklichen Umbruch und nicht nur eine temporäre „Beschleunigung“ in der Literatur bewirken.

So gesehen, denke ich, sind wir eher eine Spätgeneration von etwas, was seit der Moderne erfolgreich ist. Wahrscheinlich befinden wir uns gerade an der Spitze seiner quantitaven Möglichkeiten. Man ist am Ausprobieren, ohne bis dato feste Positionen bezogen zu haben. Mir scheint, dass dieses „Wir“, das es jetzt gibt, eher das Ende von etwas denn der Anfang ist. Ein letztes Aufbäumen alter Erzählformen vor einem endgültigen Paradigmenwechsel. Bedeutet also die „große Wiederkehr“ am Ende doch nur das „große Verschwinden“? Wer weiß? Im Moment können wir uns nur auf vereinzelte Beobachtungen verlassen und hier und da ein wenig spekulieren.

Generation – das ist etwas, was es in der Vergangenheit „gab“. Ob es das in Zukunft gibt oder geben wird? Muss man eine Generation haben? Im Moment, so scheint es, sind es unsere großen 15 Minuten. Wie viele 15 Minuten sind ein Schriftstellerleben? Mir persönlich scheint tatsächlich die angesprochene persönliche Autonomie des Dichters entscheidend und wichtig zu sein. Oder, anders formuliert, dass es Persönlichkeiten gibt in der Literatur. Autonome Persönlichkeiten. Und dafür ist im Endeffekt ein jeder selbst verantwortlich.

„Ich widerspreche ihm nicht“, denkt sich das Mädchen in der Erzählung „Ein Schloss“. Sie hat es nicht nötig, denn sie hat einen Plan, und den wird sie ausführen. Der Mann hingegen bemerkt anscheinend bis zum Schluss nicht, dass er es in diesem Mädchen mit einem Individuum zu tun hat: ordnungslos, orientierungslos, möglicherweise einem fragwürdigen Ziel zustrebend, aber mit dem großen Willen, auf seine spezifische Art und Weise vorhanden zu sein in der Welt.

Gekürzte Version eines Vortrags, den Terézia Mora auf dem Symposium „Literatur und Generation“ in Leipzig gehalten hat

Hinweis:Abfall für alle? Die neue deutsche Literatur:Schnell geschrieben? Schnell gelesen? Schnell weggeworfen? Eine Artikelreihe über Popliteraten, Jungschriftsteller, Markterfolge und die Folgen

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