: Born to be Inspiration
Extreme Selbstverwirklichung im Modus Operandi Rock: Auf „Gung Ho“ etabliert Patti Smith die Figur Ho Chi Minh und verweigert sich einmal mehr dem aktuellen System Rockmusik
von JUTTA KOETHER
„Gung Ho“ heißt der Aufruf, nach dem Patti Smith ihre neueste Platte benannt hat. Loslegen! Und gemeint ist damit die komplette Patti Smith voller Leben, Begehren, Gefühle, Performance, Dichtungen, Kapitalismuskritik, Heldenverehrung und vieler anderer peinlicher Dinge, die sie mit Chuzpe und ausgelassenen Manierismen zu einer Aufführung extremer Selbstverwirklichung im Modus Operandi Rockmusik verdichtet und dabei das gibt, worin sie am besten ist: Inspiration.
Fünf Jahre sind vergangen seit Patti Smith’ Rückkehr in ein öffentlicheres Leben, zur Bühne, nach New York City, zum Plattenmachen, zu Auftritten. Nach „Gone Again“ (1996), der Platte, die Comeback und tiefe Trauerarbeit gleichermaßen war, kam „Peace And Noise“ (1997) heraus. Bezog sich „Gone Again“ auf echte Ereignisse im echten Leben (das Siechen und Sterben des Freundes Robert Mapplethorpe, den Tod ihres Ehemanns, des Ex-MC5-Gitarristen Fred „Sonic“ Smith, und den Tod ihres Bruders Todd Smith), und vollzogen sich fast alle Lieder in behutsamen, ausgelassen-melancholischen Tanzbewegungen im klassischen Sinne, wie etwa einem Reigen, gab’s auf „Peace And Noise“ eher grisaillehafte Verhandlung, Neuorientierung, Suche nach Zielsetzungen in Kunst und Leben. Auch diese Platte war ko-inspiriert von einem Sterbenden, dem Dichter Allen Ginsberg. Aus „Footnote to Howl“ ist eines der besten Live-Stücke von Patti Smith und ihrer Band geworden, in dem sie mit einem Klarinettensolo Ginsberg aufruft wie eine Schlangenbeschwörerin. In ihrem Buch „Patti Smith Complete: Lyrics, Notes and Reflections“ (New York 1999) stellt sie zur Genese dieser Platte selbst noch einmal fest, dass auch diese Sammlung von Songs „eingerahmt“ ist von zwei Toten: Ginsberg starb, als sie mit der Arbeit an „Peace And Noise“ begannen, William S. Burroughs, als sie die letzten Stücke aufnahmen. Damit waren „die besten Köpfe ihrer Generation“ verschwunden. Physisch zumindest. Diese Platte hatte dann etwas Geisterhaftes, Zurückhaltendes, Lieder, über denen – auch musikalisch – ein sich verdichtender universalistischer Nebel hing. Es war zwar nicht ganz klar, in welcher Mission Patti Smith unterwegs war, aber Songs, Gesten und Musik wurden zur suggestiven Einladung, mittendrin zu sein in der Performance und an deren Energie zu partizipieren. In diesem Sinne wurden einige der Songs in verschiedenen Live-Fassungen mit neuem Leben gefüllt. Und mit den gegensätzlichen Zuständen der menschlichen Seele und Stimme: hymnisch, fucked up, erzählend, Witze reißend, stotternd, jivend.
Mehr Modell Ginsberg als Modell Burroughs
Was die Ausrichtung angeht, scheint sich Smith auf „Gung Ho“ stärker an dem Modell Ginsberg zu orientieren als an dem von Burroughs. Im letzten Jahr verstärkte sich ihre lebensbejahende, tagespolitisch interessierte, agitatorische Position. „One Voice“ und „Upright Come“ sind Lieder auf „Gung Ho“, die dem Rechnung tragen. Mögliche Abrutscher ins Althippiehafte weiß sie meistens geschickt durch eine Wendung in Wort und Stimmung in eine verständliche Form von persönlicher Exzentrik und Anliegen zu verwandeln.
Eine Vietnamreise bestärkte sie im Vorhaben, eine neue Figur in ihrem Pantheon zu etablieren: Ho Chi Minh. Der 25. Jahrestag der Beendigung des Vietnamkriegs spielte hier vielleicht eine Rolle. Versuche der Aufarbeitung anderer topics wie Sklaverei in „Strange Messenger“ – sie schlägt den Bogen von Sklavenhandel und Kolonialisierung zu zeitgenössischen Systemen von Sklaverei, die durch Rassismus, hate crimes und Drogenprobleme produziert werden – konterkariert sie mit einer Abhandlung über christliche Nächstenliebe: eine Art Hommage an Mutter Teresa.
Der Grundton der Platte ist aufgedrehter, animierter, elektrischer Folk-Rock, manchmal angereichert mit Soundeffekten wie Hubschrauber-Rotoren oder Atemrhythmen, sowie einigen Fun-Rock’n’Roll-Rules-haften Stimmungen, die an alte CBGB’s-Zeiten erinnern, wie zum Beispiel das blondiehafte „Gone Pie“ mit einem soliden Heavyrock-Riff. Es gibt sogar potenzielle Rock-„Hits“: Das schnelle „Glitter In Their Eyes“ (unterstützt von Ex-Television Tom Verlaine an der Gitarre und Michael Stipe von R.E.M.) zählt dazu, „Persuasion“ (mit Ex-Hüsker-Dü Grant Hart und ihrem Sohn Jackson Smith) und „Gone Pie“.
„Gung Ho“ passt trotzdem nicht ins System heutiger Rockmusik. „Rockmusik“ ist durch so viele Inkarnationen, Mutationen, Kopien gegangen und ist kulturell so durchprozessiert, dass es fast schockiert, Sounds und Fabrics von einem „echten“ Exemplar künstlerischen, eklektischen Rock’n’Rolls zu hören, wie er in den frühen Siebzigern in NY definiert wurde. Es ist – wie sie an anderer Stelle schrieb – die „anthemic artlessness“ der Ausdrucksweise ihrer Generation.
Bill Bradleyfor President
Zusammengehalten wird alles von ihrer Stimme. Während der Entwicklung von „Gung Ho“ (der Begriff, der von amerikanischen Soldaten im Korea-Krieg adaptiert wurde und „Gemeinsam Loslegen“ bedeutet, ging später in den „Ho, Ho, Ho Chi Minh“-Schlachtruf der Anti-Vietnamkrieg-Demonstranten ein) hatte sie, gemäß ihrer Überzeugung, dass Kunst, Intellektualität und Politik etwas miteinander zu tun haben, den Demokraten Bill Bradley in seinem Bemühen um die Aufstellung für die amerikanische Präsidentschaftskandidatur unterstützt. Diese Unterstützung äußerte sich in ihren Ansagen, ihren Reden während ihrer Shows und TV-Aufnahmen und entsprechenden Kommentaren in Interviews. Eine Haltung, die man im Zeitalter des Post-Rock, Celebrity-Rock eigentlich nicht an den Tag legt, uncool. Ähnliches gilt für das Vorführen der amerikanischen Flagge. Man darf dies als kreative Vieldeutigkeit bezeichnen.
Die Platte „Gung Ho“ selbst ist eher eindeutig – in ihrem Versuch, an den Standard der zeitgenössischen Bearbeitung von Popmusik heranzukommen. Gil Norton, der bislang Bands wie Pixies, Counting Crows, Foo Fighters abmischte, ist der Produzent. So kommt es, dass „Gung Ho“ ein ausgeglicheneres Werk geworden ist als die anderen Neunzigerjahre-Alben. Schräge Stimme, skelettöse Stücke, misslungene, aber auch außergewöhnlich experimentelle Passagen kommen auf „Gung Ho“ nicht vor.
Eher verhandelnd wird der Kontakt gesucht, nicht durch Aggression, auch nicht durch den Stil der Aggression. Kontakt wird installiert, der Kontakt ist direkt, zielgerichtet. Loslegen eben. Das erscheint dann hier und da etwas ermahnend, erzieherisch. Die Musik wird zum Hintergrund, zum Teppich, auf dem das Erdichtete auf und ab läuft und manchmal tanzt. Doch die Beharrlichkeit, mit der Patti Smith ihren Begriff von Selbstbestimmtheit gemäß den verschiedenen Stadien ihres Lebens erweitert,führt auch innerhalb eines neoklassizistischen Albums zu erstaunlichen Resultaten. Eine Lied wie „Libbie’s Song“ hört sich an, als könne man nur dahin kommen, wenn man zuvor eine Menge andere Arbeit erledigt hat. In diesem Lied singt sie aus der Perspektive von General Custers Frau. Wenn das „Danach“ erreicht und man allein ist, verbinden sich Wort und Musik, werden eins. Das ist Folk-Music-Essenz. Die Tatsache, dass Smith hier nur von ihrer eigenen akustischen Gitarre begleitet wird, unterstreicht das Einsamkeitsmotiv. Ihre Schwester Kimberly spielt Violine und Mandoline.
In den vergangenen beiden Jahren sind verschiedene Bücher über Patti Smith erschienen. Mal im Legendäre-Typen-Stil. Mal im Old-School-Rock-Bio-Stil (wie etwa bei Victor Bockris). Dann gibt es die respektvolle Bewunderung, wie sie besonders Frauen ihrer Generation (darunter Annie Leibovitz, Susan Sontag oder die Modeschöpferin Ann Demeulemeester) genießen. Bei den jüngeren Generationen, die sich an ihr orientierten, sind es eher Stil, Auftritt und Attitüde, die kopiert werden. Es gibt auch treue männliche Bewunderer (von Brice Marden über Thurston Moore und Jeff Koons zu Michael Stipe). Und es gibt auch die vier Reihen bei jedem Rock-Auftritt in New York mit immer den gleichen Gesichtern. Man kann einen Typus Fan ausmachen. Aber einen Hofstaat hat sie nie ausgebildet. Keine Lust auf Rockstar-Dasein. Keine Aufführung von Life-Style. Ein – mitten in der celebrity culture – anachronistisches, jedoch faszinierendes Modell. So wird Nostalgie vermieden und die Arbeit getan. Was mich am meisten und in allen Variationen, mit Band und ohne, mit guten und schlechten Gigs immer am meisten an Patti Smith interessiert hat, ist der Moment der lebenden Arbeit, der Performance als einer Möglichkeit des exaltierten wie auch konzentrierten Ausdrucks.
Das Alternder-Rockstar-Syndrom
Patti Smith, das ist materialistisch, direkt von 0 auf 100 gehen können, zeitgenössisch sein auch mit 53 (wieder das Alternder-Rockstar-Syndrom), das Publikum animieren können, immer Regisseur der Situation bleiben, selbst wenn man stolpert und den Clown machen muss. Das heißt: Künstlersein-Aufführen wird zum Künstlersein-Werden: die eigene Position ohne Peinlichkeit kurzerhand gleich mitanalysieren und -zerlegen zu können, ohne Zynismus; intensiv und unabhängig sein, doch gleichzeitig andocken ans kulturelle und politische Geschehen. Der Wille, kontinuierlich etwas beizusteuern und im rechten Moment den vollen Einsatz zu geben, egal in welchem Zusammenhang. Im Auftritt, im Anstoß, mit dieser bewundernswerten Technik des Improvisierens. Mit einer seltsamen Mischung aus Routine und der sich spontan aus dem Nichts erfindenden Künstlerin bei der Arbeit. Und plötzlich ist sie da, die physische und geistige Interaktion mit einem Publikum. Im Rahmen der „anthemic artlessness“ stellt Patti Smith Inkonsistenzen her, in denen das Recht auf Unbekümmertheit und Verantwortlichkeit eingefordert wird. Ganz früher hat sie mal gesagt, dass sie nach New York kam, um Muse zu sein. Doch früh hat sie erkannt, dass diese Position der Muse hemmungslos erweitert werden konnte, mit einem Amalgam künstlerischer Techniken aus Musik, Dichtung, Talkshow, preaching und Kunst. Man sieht nun, dass es eine Position gibt, die keine Angst kennt, sich zuständig zu erklären für universelle Liebe, direkte Aktion, seltsame Symbolismen, Frauenschicksale, amerikanische Geschichtsbildung, Rockmusik, das Erbe der amerikanischen Beat-Generation und was immer gerade ihre Liebhaberei ist und eingebaut wird in ihr künstlerisches Konzept aus lebenden Gedanken.
Patti Smith’ selbst gesponnener roter, mythischer Faden ist seit über 25 Jahren ihre Aufgabe als Inspiratorin. Und ihre aktuelle Fassung dieses Umstands nennt sich „Gung Ho“. Was da genau loslegt, das muss man sich schon selbst beibringen.
Patti Smith: „Gung Ho“ (WEA)
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