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Mehr Bildung statt immer noch mehr Inder

Seit gestern gibt es über eine Milliarde Inder. Politiker wollen mit höherem Bildungsstandard für weniger Geburten sorgen

DELHI taz ■ Am Donnerstag kurz vor 13 Uhr Lokalzeit war es so weit: Auf der großen Bevölkerungsuhr vor der Universitätsklinik in der Hauptstadt Delhi sprangen alle neun Ziffern auf Null. Im Innern des benachbarten Safdarjang-Spitals kam derweil die Inderin Nummer 1.000.000.000 auf die Welt und machte ihre Heimat damit zum zweiten Staat nach der Volksrepublik China mit über einer Milliarde Einwohnern. Schon eine Minute später hatte sie bereits zweiundfünfzig MitbürgerInnen, die jünger waren als sie.

Knapp eine Geburt pro Sekunde ist die gegenwärtige Wachstumsrate, die Indien jedes Jahr 16 Millionen Menschen – knapp die Bevölkerung Australiens – beschert. Bei den gegenwärtigen Wachstumstrends wird Indien im Jahr 2045 China überholen.

Was macht Indien falsch – und China richtig? 1975 versuchte die damalige Premierministerin Indira Gandhi das überbordende Bevölkerungswachstum unter Kontrolle zu bringen, indem sie die drakonische „Ein-Kind-Politik“ der Chinesen durchsetzte. Doch die Zwangssterilisationen stießen auf so großen Widerstand, dass die Tochter Nehrus zwei Jahre später aus dem Amt gefegt wurde. Die Botschaft des Volks war eindeutig: Wir mögen zwar sehr arm sein, aber die Freiheit der Selbstbestimmung über Person und Familie lassen wir uns trotzdem nicht nehmen.

Während der folgenden zwanzig Jahre sorgte dieser demokratische Reflex dafür, dass Familienplanung in Indien ein Schimpfwort blieb und die Regierung keine vernünftige Bevölkerungspolitik durchsetzen konnte.

Erst in den Neunzigerjahren begann man, die Kontrolle des Wachstums als Teil einer umfassenden Sozialpolitik zu begreifen. Man erkannte, dass Frauen Kinder in die Welt setzten, weil so viele im frühen Kindesalter starben, und weil sich die Mütter selber kein langes Leben erwarteten. Gesundheit von Frau und Kind sowie Schulbildung sind wichtiger, als schwangere Mütter mit Lockgeschenken zur Abtreibung oder zur Pille zu überreden.

Der Beweis wurde in Indien selbst geführt: In den südindischen Staaten Kerala und Tamil Nadu korreliert das niedrige Wachstum von 1,1 Prozent der letzten zehn Jahre signifikant mit der Tatsache, dass es dort beinahe keine Analphabeten gibt, dafür jedoch eine effiziente Gesundheitsfürsorge. Die Bundesstaaten Nordindiens dagegen wuchsen mit ihrer niedrigen Bildungs- und hohen Sterberate im gleichen Zeitraum doppelt so schnell.

Bei zahlreichen Anlässen bekannten sich Politiker gestern zu einem neuen Anlauf zur dauerhaften Stabilisierung der Bevölkerungszahl. Allmählich setzt sich auch bei ihnen die Erkenntnis durch, dass es sich Indien, so sagt es Premierminister A. B. Vajpayee, „nicht mehr leisten kann, seine Fortschritte durch eine wachsende Bevölkerungszahl zunichte zu machen“.

Vor zwei Monaten verabschiedete die Regierung eine neue Bevölkerungspolitik, in der das „junge Mädchen“ die zentrale Rolle einnimmt: Wenn Mädchen überall im Land einen Schulabschluss erreichen und gesund in die Ehe eintreten, dann stehen die Chancen gut, dass sie weniger und gesündere Kinder in die Welt setzen werden.

Das Programm schließt auch ein Schlupfloch, das viele Politiker bisher zu heimlichen Verfechtern von Großfamilien gemacht hat. Gemäß der Verfassung sollte nach der Volkszählung von 2001 die Zahl der Parlamentssitze den neuen demografischen Verhältnissen angepasst werden. Damit würden Kerala und Tamil Nadu für ihre progressive Bevölkerungspolitik bestraft, während die Sünder Uttar Pradesh und Bihar mit zusätzlichen Sitzen belohnt würden. Dieser perverse Anreiz wird nun abgeschafft: Die gegenwärtige Sitzverteilung im Parlament wird bis zum Jahr 2025 eingefroren. BERNARD IMHASLY

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