: Gründungsmythos
Der israelische Historiker und Politologe Zev Sternhell gehört zu den führenden Wissenschaftlern der politischen Ideengeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts in Europa. Er unterrichtet und forscht an der Hebräischen Universität in Jerusalem.
In seinem Buch über die Gründung und Formierung des modernen israelischen Staates kritisiert der Politologe, dass Nationalismus die universalen Werte überschattete und deshalb Israel bis heute weder eine Verfassung noch eine Trennung von Staat und Religion erreicht hat. Jahrzehntelang diente das Argument, Asylstaat für verfolgte Juden zu sein, als raison d’être für den Judenstaat.
Deshalb gelten bis heute zweierlei Rechtsgrundlagen für jüdische und arabische Israelis – beispielsweise bei der Familienzusammenführung oder bei Eheschließungen. So ermöglicht das Rückkehrrecht allen Juden auf der Welt, innerhalb von 24 Stunden die israelischen Staatsbürgerrechte zu erhalten, während arabische Israelis oft jahrelang mit den Ämtern kämpfen müssen, um für angeheiratete Nichtisraelis die gleichen Rechte durchzusetzen.
„Das Rückkehrrecht ist kein Kind der zionistischen Utopie, sondern Folge des Holocaust“, argumentiert der israelische Politologe Joaw Gelber, aber nach fünfzig Jahren gebe es „weltweit keinen Juden“ mehr „ohne Staatsbürgerschaft und keinen wirklich verfolgten Juden“. Momentan wird eine Abänderung des Rückkehrrechtes debattiert – undenkbar noch vor zehn Jahren.
Der Holocaust als Letztbegründung für eine Ausgrenzungspolitik verliert in Israels Politik zunehmend an Bedeutung. Dennoch verurteilte Tommi Lapid, letzter Holocaustüberlebender im Jerusalemer Parlament, mit diesem Argument die deutschen Luftangriffe auf Serbien. Oder Oppositionspolitiker Zachi Hanegbi („Nicht wie die Schafe zu Schlachtbank“), der gegen die seines Erachtens zu sanfte Politik in der Folge einer Reihe von arabischen Terrorattentaten polemisierte.
Dennoch: Wenn Präsident Johannes Rau vor der Knesset spricht, muss seine Rede mit einer Entschuldigung eingeleitet werden, und Ähnliches erwartete man vom Papst, als er Jad Vaschem besuchte. Trotzdem nimmt die Erinnerung an den Völkermord und die Judenverfolgung heute eine veränderte Rolle ein. Über die „Identifikation per KZ“ schrieb der Historiker Tom Segev. Gemeint ist eine kollektive Rückbesinnung auf die Verfolgung, ungeachtet dessen, ob die eigene Herkunft in Polen oder in Marokko liegt. Ob dunkel- oder hellhäutig, ob fromm oder weltlich, so lautet das Motto: Wir sind alle Juden, alle Mitglieder des verfolgten Stammes, und Israel ist ihnen ein Platz, der Schutz bietet.
Zev Sternhell: „Die Entstehung der faschistischen Ideologie“. Hamburger Edition, Hamburg 2000, 411 Seiten, 68 Mark
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