Fernrohr zwischen Gitterstäben

Von der Peinlichkeit, zum „Fall“ gemacht zu werden: Videointerview mit Adriano Sofri in der Volksbühne

Auf den „Fall Sofri“ angesprochen, nennt er ihn eine kleine Geschichte an der Schwelle zwischen Tragischem und Lächerlichem. Ein winziges Drama im Vergleich zu den großen, die sich ringsum abspielen. Lieber wolle er übers Theater sprechen, über Theater und Gefängnis, worum es in Berlin letztendlich geht. Darüber könne er sich aber nur als Zuschauer äußern.

Adriano Sofri – so scheint es im Videointerview, das Marco Boato im Auftrag der Volksbühne mit ihm geführt hat und das heute zum Abschluss des Festivals „Theater und Gefängnis“ gezeigt wird – hat sich in dem Drama, in dem er mitspielt, eine Zuschauerrolle bewahrt. Er redet vom Leben hinter Gittern, als hätte er ein Fernrohr zwischen die Stäbe geschoben. Und nicht wie einer, der dahinter sitzt. Sofri spricht davon, dass die Gefängnisse von jungen Männern bevölkert sind, von jungen besitzlosen Immigranten und jungen Drogensüchtigen. Sie würden weggesperrt, damit ihr Anblick die „anständigen Leute“ nicht vergräme. Er spricht von den Ritualen, die den Alltag der Insassen in eine endlos sich wiederholende Aufführung verwandeln. Von dem Trost, der ihnen das Theater durch das Rollenspiel bietet. All dies, als ginge es nie auch um ihn. All dies, um zuletzt den Blick von außen zu fordern, von denen, die sich auf den Straßen frei wähnen. Dass der Blick von außen derzeit vor allem auf ihn gerichtet ist, dafür schämt sich Adriano Sofri ein wenig. „Es ist peinlich, sagt er, zu einem Fall gemacht zu werden.“

Ende der Sechziger und Anfang der Siebziger war Sofri als Führer der außerparlamentarischen Bewegung Lotta Continua und verantwortlicher Redakteur des gleichnamigen Organs einer der exponiertesten Köpfe des linken Protestes. Nach der Auflösung von Lotta Continua – der nicht zuletzt seine Weigerung, den politischen Mord als Kampfmittel zu akzeptieren, zu Grunde lag – setzte er auf die Macht des Wortes. Fortan war vor allem die Stimme des Journalisten Sofri zu vernehmen, die die Kernideale des Jahres 1968 in eine veränderte historische Situation hinüberzuretten suchte. Aber gerade die Macht seines Wortes haben ihm die Gegner offenbar nicht verziehen.

Sofri wurde 1988 zusammen mit zwei anderen Ex-Mitgliedern von Lotta Continua des Mordes an dem Kommissar Luigi Calabresi angeklagt, der 1972 einem Attentat erlegen war. Die Anklage stützte sich einzig und allein auf die Aussage eines zwielichtigen Individuums, Leonardo Marino, der sich der Mittäterschaft beschuldigte, dessen Ausführungen über den Tathergang aber mit den Beschreibungen aus verbürgten Quellen der Zeit nicht in Einklang zu bringen waren. Obwohl die Anklage keine sonstigen Beweismittel anführen konnte, obwohl Marino im Laufe des Gerichtsverfahrens sich immer wieder in Widersprüche verwickelte, wurden Adriano Sofri, Ovidio Bompressi und Giorgio Pietrostefani für schuldig erklärt. Auch die sieben folgenden Revisionsverhandlungen, änderten nichts an dem Schuldspruch der Gerichte. Dabei hatte sogar der Kassationshof deren vorhergehenden Urteile wegen fehlender Beweisgründe aufgehoben. Den Richtern hat als Beweismittel offenbar die Tatsache genügt, dass Lotta Continua einst eine Pressekampagne gegen den Kommissar Calabresi geführt hatte.

Mittlerweile haben Bompressi und Pietrostefani das Handtuch geworfen und sind ins Ausland geflohen, während kaum jemand noch in Italien Zweifel daran hegt, dass die Verurteilung der drei Ex-Militanten von Lotta Continua ein politisches Urteil ist, durch das mit der 68er-Bewegung abgerechnet wird. Dem hält Sofri entgegen, er selbst betrachte sich nicht als politischer Häftling. Er wolle bloß die Justiz eines demokratischen Landes dazu zwingen, seine eigenen Gesetze einzuhalten. AURELIANA SORRENTO

Videovorführung, heute abend, 22 Uhr im Grünen Salon der Volksbühne. Anschließend Publikumsgespräch mit dem italienischen Grünen-Abgeordneten Marco Boato, dem Sofri-Übersetzer Walter Kögler und Thomas Schmid („Die Welt“)