piwik no script img

Ein fatales Feuerwerk

Die Explosion in einer Feuerwerkfabrik im holländischen Enschede hat wahrscheinlich zwanzig Tote und mehr als 560 Verletzte gefordert

Die verheerende Explosion eines Feuerwerklagers in einem Wohnviertel der Stadt Enschede hat in den Niederlanden Entsetzen ausgelöst. Bei der Explosion wurden nach offiziellen Angaben am Samstag etwa zwanzig Menschen getötet und mindestens 562 verletzt, Dutzende von ihnen schwer. Bis zu vierhundert Häuser wurden zerstört und weitere tausend beschädigt. Hunderte niederländische Helfer und gut hundert Rettungskräfte aus Deutschland suchten am Sonntag weiter fieberhaft nach Vermissten und möglichen Überlebenden. Elf Verletzte lagen noch auf der Intensivstation. Bis zum Nachmittag konnten erst dreizehn Leichen identifiziert werden.

Es war das schlimmste Unglück in den Niederlanden seit acht Jahren. Damals waren beim Absturz einer israelischen Frachtmaschine über einem Amsterdamer Vorort 45 Menschen ums Leben gekommen.

Ministerpräsident Kok forderte eine „gründliche und unabhängige Untersuchung“ der Unglücksursache. Er zeigte sich nach seinem Besuch zwischen den Trümmern sichtlich bewegt. „Es ist eine furchtbare Katastrophe. Nur die Schornsteine der Häuser stehen noch. Es ist der schlimmste Anblick, den man sich vorstellen kann“, sagte er. Jetzt stelle sich die Frage: „Wie konnte das passieren?“ Kok äußerte sich „überrascht“ darüber, dass sich ein Lager mit einem solchen Gefahrenpotenzial in einem Wohngebiet befinden darf.

Als Ursache für die Katastrophe kann Brandstiftung nicht ausgeschlossen werden. Nach Angaben der Behörden ereigneten sich in den vergangenen vier Tagen in Enschede zwei weitere Brände in großen Unternehmen. Erst am Freitag ist den Angaben nach ein Brand in einer Fabrik für Kunststoffgartenmöbel gelegt worden. Zwei Tage zuvor brannte ein Möbelhaus völlig aus. Hinweise auf mögliche Täter und deren Hintergründe gibt es bislang noch nicht.

Der Katastrophe vorausgegangen war ein Brand im Lager des Unternehmens „Fireworks“. Brennende Feuerwerkskörper lösten dann eine gewaltige Explosion aus, die noch in weiter Entfernung von den Seismografen der Erdbebenwarten registriert wurde. Das betroffene Stadtviertel wirkte nach der Katastrophe wie ausgebombt. Die Druckwelle schleuderte große Betonblöcke durch die Luft, im Umkreis von vielen hundert Metern gingen Fensterscheiben zu Bruch. Alle Krankenhäuser und Feuerwehren in der Region wurden mobilisiert. „Es war unglaublich, wirklich furchtbar. Es war wie ein Flugzeugabsturz“, schilderte die Augenzeugin Marloes Bosklopper das Unglück. Nach der Explosion sei Panik ausgebrochen, Menschen seien ziellos in alle Richtungen gerannt, überall sei Blut gewesen.

Für die Feuerwehrleute war es teilweise ein aussichtsloser Kampf, wie Einsatzleiter Tenspolde berichtete. „Wir wussten, dass wegen der anhaltenden Explosionen bereits niederländische Feuerwehrleute ums Leben gekommen waren und konnten nur mit äußerster Vorsicht vorgehen. Da sind Betonteile hundert Meter durch die Luft geflogen. Ganze Straßenzüge mussten wir hilflos aufgeben und abbrennen lassen“, erzählte er. „Große Unsicherheit herrschte auch, weil in der Grolsch-Brauerei ein Methantank stand, bei dem zu befürchten war, dass er ebenfalls in die Luft gehen würde.“ Über dem Stadtteil stand eine dichte Rauchsäule, die in 40 Kilometern Entfernung noch zu sehen war. Noch am Sonntag stand eine Rauchwolke über Enschede. Durch die Brände war außerdem Asbest freigesetzt worden. Die Bevölkerung wurde daraufhin aufgefordert, verstaubte Kleidung sofort zu waschen und – wenn überhaupt – nur feucht zu fegen.

Die Aussichten, Verschüttete des Unglücks noch lebend zu finden, wurden von den Helfern am Sonntagnachmittag als gering eingestuft. Zuletzt sei eine Person am Samstagabend lebend gerettet worden. Gerüchte über angebliche Klopfzeichen unter den Trümmern, die von einer eingeschlossenen Frau und ihren zwei Kindern stammen sollten, bestätigten sich nicht.

Um mögliche Katastrophentouristen abzuhalten, riegelten Polizei und Militär das Gebiet um die Unglücksstelle weiträumig ab. Der Bürgermeister Enschedes, Jan Mans, appellierte an Neugierige, nicht nach Enschede zu kommen, und forderte alle Ortsfremden auf, die Stadt zu verlassen. Wer sich nicht an die Anweisungen halte, werde festgenommen. Aus einem Sperrkreis von einem Kilometer um die Unglücksstelle mussten 2.000 Bewohner der Stadt evakuiert werden. In der Nacht patrouillierten im Stadtgebiet Polizeistreifen, um Plünderungen zu verhindern.

Die Stadtverwaltung appellierte an die 150.000 Bürger der Stadt, sich bei den Behören zu melden und ihren Aufenthaltsort mitzuteilen. Unter dem Eindruck der Katastrophe brach das niederländische Fernsehen die Übertragung des europäischen Schlagerwettbewerbs ab. Statt die Bevölkerung zur telefonischen Abstimmung zu bitten, sprang eine Jury ein.

Eine ähnliche Explosion wie in Enschede hatte sich 1991 bei einer Feuerwerkfabrik in Culemborg bei Utrecht ereignet. Damals kamen zwei Mitarbeiter des Unternehmens ums Leben, 20 weitere wurden verletzt. DPA/AP/AFP/TAZ

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen