: Tolle Niederlage für die SPD
Prozente verloren, Gewicht gewonnen: Trotz Stimmenverlust sind die Sozialdemokraten Gewinner. Sie sind nicht mehr auf die Grünen angewiesen
aus Berlin BETTINA GAUS
Es kann so schön sein, Wahlen zu verlieren. Die SPD hat bei den Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen mit 42,8 Prozent der Stimmen ihr dort schlechtestes Ergebnis seit 1962 erzielt. „Wir können nicht zufrieden sein“, kommentierte Franz Müntefering den Wahlausgang. Nur nicht verzagen!, möchte man dem SPD-Generalsekretär da zurufen. Alles wird gut. Die Bevölkerung hat ihr Votum abgegeben: Jetzt hat die SPD die Wahl. Nicht nur in Düsseldorf, sondern auch in Berlin, und nicht nur ein paar Wochen lang, sondern voraussichtlich mindestens bis zu den nächsten Bundestagswahlen.
Zum ersten Mal seit seinem Amtsantritt als Bundeskanzler kann Gerhard Schröder sich ganz entspannt zurücklehnen. Die nächsten Wahlen finden erst im kommenden Jahr statt und dann auch noch im konservativ regierten Baden-Württemberg. Da hat die SPD nichts zu verlieren. In Nordrhein-Westfalen hingegen hat sie gewonnen – nicht an Prozenten, aber an Gewicht.
Derzeit spricht mehr dafür, dass Ministerpräsident Wolfgang Clement das rot-grüne Regierungsbündnis fortsetzen wird, als für einen Wechsel zu einer sozial-liberalen Koalition. Aber kommt es darauf überhaupt an? Allein schon die Androhung des Partnertauschs dürfte genügen, um auch die letzten Bündnisgrünen zu disziplinieren, die noch immer nicht ganz handzahm sind.
Das gilt nicht nur für Nordrhein-Westfalen. Auch im Bundestag verfügte ein sozial-liberales Bündnis derzeit – theoretisch – über eine parlamentarische Mehrheit. Die Grünen wollen den Atomausstieg, notfalls auch ohne vorherige Einigung mit den Stromversorgern? Einen weiteren Militäreinsatz ohne UN-Mandat soll es nicht mehr geben? Deutsche Waffenexporte müssen an strengeren Richtlinien als bisher gemessen werden? Bitte sehr, wenn die ehemaligen Alternativen darauf bestehen wollen. Die SPD ist auf die Grünen nicht mehr angewiesen.
„Es gibt keine Koalition in der Opposition“, hat die CDU-Vorsitzende Angela Merkel kürzlich gesagt. Sie hat damit Verständnis für die Avancen der FDP gegenüber den Sozialdemokraten in Nordrhein-Westfalen ausdrücken wollen, aber im Lichte der neuen Verhältnisse kommt ihrer Äußerung eine weitreichendere Bedeutung zu. Die FDP hat keinen Grund mehr, sich an eine Union zu binden, die noch immer nicht aus der Talsohle herausgefunden hat und mit der sie angesichts der marktliberalen Positionen von Bundeskanzler Schröder auch inhaltlich derzeit nicht mehr verbindet als mit der SPD.
Jürgen Möllemann ist von seinen politischen Gegnern vorgeworfen worden, mehr auf Showelemente als auf Inhalte gesetzt zu haben. Der Vorwurf trifft zu und ist dennoch ungerecht. Denn es standen ja in Nordrhein-Westfalen ohnehin keine konkurrierenden Konzepte und Politikentwürfe zu Wahl. Gewinner und Verlierer sind sich darin einig, dass der Strukturwandel der ehemaligen Industrieregion weiter vorangetrieben werden muss, und hinsichtlich des richtigen Weges zu diesem Ziel bestehen Meinungsverschiedenheiten allenfalls in Nuancen. Oder werden aus Koalitionsrücksichten allenfalls leise artikuliert.
Die CDU scheint derzeit einer der beiden Hauptverlierer einer Entwicklung zu sein, die zu einer immer stärkeren programmatischen Angleichung der Parteien aneinander geführt hat. Seit es kein – im klassischen Sinne – „linkes“ Lager in Deutschland mehr gibt, löst sich auch das einst als „bürgerlich“ bezeichnete Milieu auf. Der FDP-Erfolg in Nordrhein-Westfalen lässt sich nicht mehr wie bei vergleichbaren früheren Gelegenheiten allein auf Wählerwanderungen innerhalb dieses Milieus zurückführen. Was für Ostdeutschland schon länger gilt, scheint allmählich auch auf Westdeutschland zuzutreffen: (Fast) alle Parteien sind für (fast) alle Leute wählbar; die jeweiligen Spitzenkandidaten spielen eine immer größere Rolle. Wer in der Union kann Schröder Paroli bieten? Bisher niemand.
Die FDP ist in der Vergangenheit schon oft totgesagt worden. Ihren Erfolg verdankt sie nun wohl nicht zuletzt auch dem wachsenden Überdruss in der Bevölkerung allen Parteien gegenüber, der durch die zahlreichen Affären befördert worden ist und in der niedrigen Wahlbeteiligung sichtbar wurde. In solchen Zeiten hat die Rolle der Opposition einen eigenen Charme, dem so manche Bündnisgrüne sehnsüchtig nachtrauen dürften.
Manches spricht dafür, dass diejenigen in den Reihen der Grünen, die das Erbe der Liberalen antreten wollten, nun ihr Ziel erreicht haben – wenn auch in anderer Hinsicht als von ihnen gewünscht. Die Grünen befinden sich in einer Existenzkrise: Nicht nur deshalb, weil sie seit Jahren eine Wahl nach der anderen verlieren, sondern vor allem auch deshalb, weil ihnen angesichts der veränderten Machtverhältnisse jetzt nur noch die Wahl zwischen vollständiger Anpassung und vollständigem Scheitern zu bleiben scheint. Ihnen mag als – wenn auch schwacher – Trost bleiben, dass Gerhard Schröder angesichts seiner neuen Wahlfreiheit nun auch Farbe bekennen und die Politik machen muss, die er für richtig hält. Welche auch immer das sein mag.
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