: Tamponwechsel unterm Monitor
„Big Brother“ ist okay. Machen Sie den Test, lassen Sie sich dieses durch und durch redliche Stück Fernsehen nicht entgehen! Es schärft die Sinne und fördert das Misstrauen – gegen alles und jeden, vor allem das Fernsehen selbst
von CHRISTOPH SCHULTHEIS
Jeder sollte „Big Brother“ schauen. Unbedingt. Und möglichst Täglich mit großem T wie Teletubbies oder Tagesschau.
„Es liegt im Trend der Zeit, dass Realität geschaffene Realität ist, und die wird mit Kameras gemacht“, schwafelte schließlich schon wenige Tage nach dem Start der RTL2-Show der Psychiater Prof. Hinderk Emrich und fügte – quasi über den Rand seines Monokels – hinzu: „Moderne Realität ist Medienrealität.“
Und da musste man Herrn Emrich dann doch Recht geben, auch wenn der gute Mann mit solchen Sätzen eigentlich etwaige Dauerkonsumenten der Beobachtungs-Serie vor drohenden Änderungen ihrer Persönlichkeit warnen wollte. Seither sind zwei Monate vergangen, „Big Brother“ ist in aller Munde – und der angelegentliche Dauerkonsum verändert tatsächlich etwas: die Wahrnehmung. „Big Brother“ macht nämlich misstrauisch, zutiefst und gleichsam alle Beteiligten.
Da ist zunächst der Big Brother selbst (also die Produktionsfirma Endemol und ihr williger Vollstrecker RTL2), der die Beteiligten vorm Einzug seitenlange Verträge unterschreiben ließ und in allen Ecken der Show-Wohnung Kameras installiert hat – auch, weil er seine sorgfältigst ausgewählten Kandidaten keinen Moment aus den Augen lassen will. Auch dort nicht, wir wissen es längst, wo die notdürftigen Bilder urinierender, defäkierender und den Tampon wechselnder junger Menschen (hoffentlich) niemals das Licht der Öffentlichkeit erblicken werden. „Aus Sicherheitsgründen“, sagt der Bruder, würde überall hingeguckt, und meint: damit keiner sich unbemerkt die Pulsadern aufschlitzen oder anderen eine Vergewaltigung andichten kann.
Der Quote zuliebe werden die Spielregeln geändert
Dem Zuschauer wiederum misstrauen die „Big Brother“-Macher sowieso. (Das gehört zum Business und führt unter anderem dazu, dass der Quote zuliebe auch mal die Spielregeln verändert werden ...) Und die Bewohner misstrauen einander. (Das gehört zum Spiel und führte schon des öfteren zu Verstimmungen.) Außerdem misstrauen – der Vollständigkeit halber – die Bewohner dem Big Brother. (Das gehört sich so in Diktaturen und Diktatursimulationen.)
Bleibt das Misstrauen des Zuschauers: Wer jemals eine „Big Brother“-Folge gesehen oder ein „Big Brother“-Gespräch geführt hat, wird wissen, was gemeint ist. Und wer dem Producer Rainer „Big-Brother-ist-ein-Gesellschaftsspiel“ Laux zuhören oder in eines der zahlreichen Internet-Foren schauen durfte, auch: Hat Stefan Raab, so fragt man sich, einen Spion im „Big Brother“-Haus? Hat wirklich die Mehrheit der Zuschauer ausgerechnet den beliebten Bewohner Zlatko abgewählt, oder wurde bei RTL2 geschummelt, weil der Serien-Star außerhalb der „Big Brother“-Wohnung viel mehr Aufmerksamkeit brachte als drinnen? Warum steckten eigentlich eines Tages alle Kandidaten nur noch in Sweat-Shirts mit „GAP“- und „Donna Karan“-Logos auf der Brust? Warum werden die angeblichen Live-Bilder im Internet mit vierminütiger Verzögerung gezeigt und manchmal plötzlich gar nicht? Hat der Big Brother auf dem WG-Klo tatsächlich einen Fernsehmonitor installiert? Hatte Kerstin unter der Bettdecke wirklich Sex mit Alex? Und hat sie das Haus drei Wochen später nur deshalb vorzeitig verlassen, um noch rechtzeitig ihre Schwangerschaft abzubrechen? War Jona drogensüchtig? Jeden Tag passiert irgendwas, auf das man sich partout keinen Reim machen kann – oder eben doch ...
Nicht Neugier allein zieht uns abends vor den Fernseher
Ende März schrieb die Berliner Zeitung: „ ‚Big Brother‘, die Sendung, in der man angeblich alles sieht, ist in Wahrheit natürlich die Sendung, in der man nichts sieht. Oder doch keineswegs so viel, dass die Neugier wirklich befriedigt würde.“ Das könnte stimmen. Doch ist es nicht Neugier allein, die einen jeden Abend trotz Frühsommer vor den Fernseher locken sollte. Es ist vielmehr die Frage „Was ist echt?“ und die Tatsache, dass uns RTL2 und Endemol 100 Tage lang die Antwort verweigern.
Moderne Realität ist eben Medienrealität, nichts weiter. Die nonmediale Wirklichkeit hingegen – und sei sie auch noch so profan – kennt keine Dramturgie. Das macht sie merkwürdiger als „Die 120 Tage von Sodom“ des Marquis de Sade, rätselhafter als den „Würgeengel“ von Luis Buñuel, weniger nachvollziehbar als die „Lindenstraße“ von Hans W. Geissendörfer, echter als das Tagebuch von Anne Frank, deutbarer als Shakespeares „Viel Lärm um Nichts“ und „Wie es Euch gefällt“ zusammen und allemal komplexer als eine 45-minütige Tageszusammenfassung von RTL2. Natürlich.
Natürlich sind wir nicht blöd: Orson Welles’ legendäre „Krieg der Welten“-Reportage über die Landung von Außerirdischen? Konrad Kujaus Hitler-Tagebücher? – Pah! Doch selbst, wenn uns spätestens Michael Borns TV-Berichte über angebliche Drogenkröten und Ku-Klux-Klane nicht nur „stern-TV“, sondern auch „Akte 2000“, „Jürgen Fliege“ und „Explosiv“ endlich suspekt gemacht hat, benötigt die Erkenntnis dort noch immer einen intellektuellen Akt. Man sieht es nicht, man muss es sich sagen (lassen).
„Big Brother“ aber braucht keine Gebrauchsanweisung mehr. Machen Sie den Test, lassen Sie sich dieses durch und durch redliche Stück Fernsehen nicht entgehen! Zehn unschuldige, x-beliebige Menschen und ein fortschrittlicher TV-Sender nähren derzeit die Zweifel am Gezeigten, einfach indem wir zuschauen, und machen die vornehme Aufgabe der (Fernseh-)Kritik, die von berufener Seite angemeldete Besserwisserei, überflüssig.
„Big Brother“ macht jede Fernsehkritik überflüssig
Doch halt! Irgendwo im Internet, in einer der „Big Brother“-Gerüchteküchen, steht zur Entkräftung irgendeines Ammenmärchens: „Wenn das tatsächlich so wäre, hätte sich die Bild doch schon draufgestürzt ...“ Außerdem besagt das jüngste Gerücht, morgen um 21.05 Uhr ziehe Verona Feldbusch für eine Nacht nach Köln-Hürth in die „Big Brother“-WG. Derzeit werde bloß noch darüber verhandelt, ob Verona ein eigenes kamerafreies Klo bekommt. Und sogar das stand in der Bild-Zeitung.
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