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138 verschiedene Hauttöne

Brasiliens schwarze Bevölkerung gewinnt an Selbstbewusstsein und wirtschaftlichem Einfluss. Und dennoch entkommt sie der Diskriminierung nicht

von ASTRID PRANGE

Die Menschenmasse in weißen Gewändern leuchtete stärker als die Feuerwerkskaskaden. Tausende Altäre mit flackernden Kerzen, Palmwedeln, Sekt, Zuckerrohrschnaps, Blumen und Parfüm wurden zu Ehren der Meeresgöttin Yemanjá im Sand errichtet. Nicht nur Afrobrasilianer huldigen der Meeresgöttin. Über zwei Millionen Menschen feierten in Rio die Jahrtausendwende am Strand von Copacabana. „Umbanda“, einst verachtete Religion afrikanischer Sklaven, gehört heute zur kulturellen Tradition Brasiliens.

Fast alle nationalen Symbole, seien es Samba oder Karneval, Capoeira oder Candomblé, beruhen auf dem Beitrag der Nachfahren afrikanischer Sklaven. Auf diese Assimilation und Toleranz sind alle Brasilianer stolz. Schriftsteller wie Jorge Amado, Sérgio Buarque de Holanda oder der Soziologe Gilberto Freyre bemühen sich seit Mitte des 20. Jahrhunderts, das kulturelle Erbe der brasilianischen Ureinwohner sowie der afrikanischen Sklaven aufzuwerten.

Das Thema Rassismus ist deshalb auch fünfhundert Jahre nach dem Beginn der portugiesischen Eroberungszüge ein Tabu. Offiziell gibt es keine Diskriminierung, höchstens „Vorurteile gegenüber einer Hautfarbe“. „Die Brasilianer wähnen sich in einer Rassendemokratie“, schreibt der Soziologe Antonio Sérgio Alfredo Guimaraes, Autor der jüngsten Studie über Rassismus in Brasilien. Seit der Abschaffung der Sklaverei im Jahr 1888 habe es in Brasilien keinerlei Konflikte oder gar gesetzliche Trennung zwischen den Ethnien gegeben.

Vertreter der schwarzen Bürgerrechtsbewegung teilen die Begeisterung für die behauptete schwarze-weiße Harmonie ganz und gar nicht. „In Brasilien ist die Apartheid schlimmer als in Südafrika“, kontert João Jorge Santos Rodrigues, Leiter der erfolgreichen schwarzen Rhythmusgruppe „Olodum“ aus Bahia. Die Ideologie der Rassendemokratie würde nämlich davon ausgehen, dass Schwarze wissen, wo ihr Platz in der gesellschaftlichen Hierarchie sei. Kennzeichnend für das scheinbar friedliche Miteinander sei die Verleugnung der eigenen Wurzeln. „Die Sehnsucht nach einer helleren Haut hat dazu geführt, dass bei der jüngsten Volkszählung 138 verschiedene Hauttöne angegeben wurden“, erinnert Rodrigues.

Rund zwei Drittel der 160 Millionen Einwohner des Landes bezeichneten sich bei der offiziellen Befragung als „nicht weiß“. Trotz der offiziellen Ablehnung jeglicher Diskriminierung stehen Afrobrasilianer in sämtlichen Statistiken zu den Bereichen Lebensqualität, Bildung, Beruf und Einkommen an unterster Stelle. Die Mehrheit der 32 Millionen Brasilianer, die in Armut leben, hat eine dunkle Hautfarbe.

Ben-Hur Ferreira, als Mitglied der brasilianischen Arbeiterpartei PT einer der wenigen schwarzen Abgeordneten im brasilianischen Kongress, gibt sich dennoch optimistisch: „Die zahlreichen wissenschaftlichen Untersuchungen, die seit dem Ende der Militärdiktatur die soziale Ausgrenzung der schwarzen Bevölkerung nachgewiesen haben, machen die Mechanismen der Unterdrückung sichtbarer und tragen zur Bewusstseinsbildung unter den Afrobrasilianern bei.“ Bei den Kommunalwahlen in diesem Jahr werde die Anzahl der afrobrasilianischen Bürgermeister und Gemeindevertreter weiter zunehmen, glaubt er.

Als Symbol für die Aufstiegschancen von Afrobrasilianern gilt nach wie vor Fußballkönig Pelé. Der dreifache Fußballweltmeister, in zweiter Ehe mit der weißen Brasilianerin Assiria Seixas Lemos verheiratet, versuchte als Brasiliens erster schwarzer Minister (1985 bis 1998), das Land mit Sportplätzen zu übersäen, um Jugendlichen aus Elendsvierteln einen Ausweg aus der Armut zu ermöglichen. „Wo Pelé Zutritt hat, haben automatisch alle Schwarzen Zutritt“, erklärt sein persönlicher Referent Agemar Sanctos. Pelé sei der erste schwarze Brasilianer gewesen, der einen Mercedes fuhr, erinnert er sich. „Es störte ihn nicht, dass ihn die Leute damals in den Sechzigerjahren für den Chauffeur hielten. In Südafrika gilt die brasilianische Fußballnationalmannschaft als Vorbild für ein friedliches Miteinander zwischen Sportlern unterschiedlicher Hautfarben.“ „Sie haben ihre Kräfte gebündelt und sind viermal Weltmeister geworden. Warum machen wir nicht dasselbe?“, stand auf einem Plakat, das die Regierung vor zwei Jahren tausendfach in Soweto aufhängen ließ.

Auch Fußballkönig Pelé identifiziert sich mit der in Brasilien vorherrschenden Mischlingskultur. Der Mehrheit der rund siebzig Millionen Mischlinge und Schwarzen in Brasilien geht es ähnlich – sie befürwortet die offizielle Doktrin der „Weißwerdung“. Mit der Idee, die im 19. Jahrhundert entstand, sollten die Minderwertigkeitsgefühle gegenüber einem wirtschaftlich überlegenen Europa kompensiert werden. Weiß galt als Symbol für christlich, gebildet, europäisch, das Attribut schwarz hingegen verkörperte das Gegenteil. Der Preis für die Aufhellung ist hoch: Indianische Kultur und afrobrasilianische Traditionen werden abgewertet und verdrängt.

Das Aufleben von afrobrasilianischen Bewegungen, insbesondere in der Stadt Salvador, wo über achtzig Prozent der zwei Millionen Einwohner afrikanische Vorfahren haben, wird deshalb von einem großen Teil der Öffentlichkeit mit Misstrauen beobachtet. „Nichts verletzt die brasilianische Seele mehr als die bewusste Pflege unterschiedlicher Kulturen“, meint Buchautor Antonio Guimaraes. Schwarze Bürgerrechtsbewegungen sähen sich deshalb häufig dem Vorwurf des „umgekehrten Rassismus“ ausgesetzt.

Bei der Feier zum 300. Todestag des schwarzen Nationalhelden „Zumbi“ am 20. November 1995, der im Nordosten Brasiliens einst die wichtigste Siedlung geflohener Sklaven gegründet hatte, wurde der wackelige Untergrund des „schwarzen Selbstbewusstseins“ besonders deutlich: „Die brasilianische Presse hat die bisher größte Demonstration gegen Rassismus in Brasilien schlicht ignoriert“, erinnert sich der 37-jährige Journalist Fernando Conceicao. Die Oberschicht versuche, die Debatte über ein eigenes ethnisches Selbstbewusstsein der Schwarzen herabzuwürdigen, indem sie das Problem des Rassismus ganz einfach leugne. „Ihre unkontrollierte Wut darüber, dass Schwarze es satt haben, nur die Hüften zu schwingen, Kaffee zu servieren, von der Polizei gejagt zu werden oder Fußball zu spielen, muss endlich ein Ende haben“, fordert der afrobrasilianische Aktivist.

In der wachsenden schwarzen Mittelschicht herrscht weitgehend Einigkeit darüber, dass die kulturelle Identität unabhängig vom materiellen Wohlstand gewahrt werden muss. „Wenn dunkelhäutige Kinder nichts über ihre Wurzeln wissen, verinnerlichen sie die kulturellen Werte ihrer Umgebung und fühlen sich als Weiße“, warnt die Psychologin Ana Maria da Silva. „Wenn dann eines Tages jemand dem Kind klar und deutlich sagt, dass es schwarz ist, kommt es zur emotionalen Katastrophe.“

Viele Afrobrasilianer, die den sozialen Aufstieg geschafft haben, pendeln mit größter Selbstverständlichkeit zwischen Asphalt und Armutsviertel hin und her. Der Spagat zwischen den unterschiedlichen sozialen Schichten verlangt allerdings eine außerordentliche Portion Gelassenheit und Selbstbewusstsein zugleich. „Ich gehe in vornehme Diskotheken und auf Funk-Bälle in den Vororten“, erzählt die 13-jährige Janaína Nascimento Villas Boas Pinto. „Das Pendeln zwischen den beiden Welten gibt mir Sicherheit und zeigt mir, wer ich bin.“ Ihre Mutter, Visagistin, schaffte den Absprung aus São João de Meriti, einem verarmten Vorort von Rio. Regelmäßig karrt sie Kinder aus der Favela zum Strand und ins Theater. „Es reicht nicht aus, unser Leben nur materiell zu verändern“, ist sie überzeugt.

Die Werbebranche hat Afrobrasilianer längst als Konsumenten entdeckt. In den berühmten brasilianischen Seifenopern gehören sie zuweilen der Mittelschicht an. Auch die Anzahl schwarzer Geschäftsleute steigt. „Seit zwei Jahren ist die Präsenz von Schwarzen in Werbefilmen deutlich angestiegen“, meint Billy Castilho, Artdirektor in einer Werbeagentur in São Paulo. Nur bei Anzeigen für Autos und Zahnpasta kämen so gut wie keine schwarzen Fotomodelle vor.

Maria do Carmo Valério Nicolau räumte bereits vor zwölf Jahren mit dem Vorurteil auf, dass sich Afrobrasilianerinnen keine Schönheitspflege leisten können. Nachdem die Lehrerin für eine Benefizgala im Fernsehen mit weißem Puder eingestäubt wurde, beschloss sie, für ihre Geschlechtsgenossinnen Abhilfe zu schaffen. Sie gründete den Kosmetikkonzern „Espaco Cor da Pele“ mit speziellen Produkten für dunkle Hauttypen, damals ein absolutes Novum auf dem brasilianischen Markt. Fernsehschauspieler legen ihr Make-up auf, sogar nach Afrika werden die 120 verschiedenen Produkte exportiert.

Dennoch kämpft die erfolgreiche Geschäftsfrau noch immer mit Vorurteilen. „Wenn sie erfahren, dass die Firmeninhaberin schwarz ist, wollen viele Zwischenhändler nicht mehr mit uns zusammenarbeiten“, klagt sie in einem Interview mit der brasilianischen Zeitschrift Raca Brasil, Brasiliens Blatt für afrobrasilianische Aufsteiger. Viele wollten auch einfach nur spionieren. Mittlerweile schluckt die 67-Jährige die bittere Pille des verschämten Rassismus gelassen. Sie investiert einen großen Teil ihres Gewinns in soziale Projekte, denn sie hat ein Ziel: Schwarze Schönheit, und nicht schwarzes Elend soll künftig das Merkmal der afrobrasilianischen Bevölkerung sein.

Astrid Prange, 37, war von 1989 bis 1996 Brasilien-Korrespondentin der taz. Zurzeit schreibt sie in Bonn für den „Rheinischen Merkur“ und kümmert sich um die entwicklungspolitische Homepage www.epo.de

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