: Wesentliche Wirklichkeitsverluste
Heißt leben zu sterben suchen? Bedeutet sterben wirklich den Tod? Das 37. Berliner Theatertreffen bestätigte erneut das Theater nicht als leeren, sondern als fensterlosen Raum. Es gab glückliche Augenblicke, verpasste Anschlüsse und den Willen zur Erstarrung in alle Ewigkeit
von CHRISTIANE KÜHL
Selbstverständlich ganz in Schwarz stand er da, der schwarze Prinz in Frank-Patrick Steckels Inszenierung von Shakespeares „Edward III.“, in einem engen schwarzen Kleid, das seine in das weite Imperium stechenden Augen umso glutvoller funkeln ließ. Von Tatendrang und Heroismus beseelt, schleuderte er dem Vater und mit ihm dem ganzen stickigen Saal des Schiller Theaters die entscheidenden Worte entgegen: „Leben heißt zu sterben suchen!“ Für das Theater hat Christoph Schlingensief dieses weise Paradoxon 400 Jahre später neu formuliert: „Das Theater retten heißt das Theater abschaffen.“
Mit der Verleihung des Alfred-Kerr-Darstellerpreises und des 3sat-Innovationspreises für „eine zukunftsweisende Leistung des deutschsprachigen Schauspiels“ endet heute das 37. Berliner Theatertreffen. Seit 1964 werden alljährlich die von einer Kritikerjury ausgewählten „herausragendsten“ Inszenierungen des deutschsprachigen Raums präsentiert – ursprünglich nicht zuletzt, um Berlin in seiner Isolationshaft Anschluss und Überblick über künstlerische Entwicklungen zu geben, an deren Spitze die Stadt nach dem Krieg nicht mehr stand.
Seit mindestens zehn Jahren nun wird jeden Mai bereits im Vorfeld der verbliebene Sinn der Leistungsschau diskutiert. Für drei Millionen Mark eine Auswahl nach Berlin zu laden, die weder eine verbindliche Standortbestimmung noch überraschende Entdeckungen ermöglicht, sondern de facto neben den Kritikervorlieben durch Geschachere hinter den Staatstheaterkulissen bestimmt wird, scheint immer weniger einleuchtend. Das Jahr 2000, das durch den Abschied des Intendanten der Berliner Festspiel GmbH, Ulrich Eckhardt, einen Aufbruch vorbereiten könnte, wurde vom überregionalen Feuilleton explizit zur Forderung nach Abschaffung des Theatertreffens genutzt. Zu erwarten ist dies nicht. Direkt im Anschluss an die Eröffnungsvorstellung habe das traditionell tagende Kuratorium samt Kulturstaatsminister und Berliner Kultursenator „in der kürzesten Kuratoriumssitzung seit Bestehen des Theatertreffens“ einen Beschluss gefasst, verkündete der künstlerische Leiter Torsten Maß. „Das Theatertreffen bleibt, wie es ist. In alle Ewigkeit.“
Für den Berliner ist das eine praktische Angelegenheit. Ohne große Reisekosten hat er die Möglichkeit, Arbeiten aus theoretisch 46 Städten zu sehen – so viele besucht die Jury nämlich, auch wenn die stete Hamburg-, Berlin-, Wien-Präsenz das kaum glauben lässt. Und selbstverständlich findet sich unter den 10 Inszenierungen immer die eine oder andere Perle, oder es finden sich zumindest perlige Augenblicke. Bei der Eröffnungsveranstaltung etwa, Joachim Schlömers hübsch choreografiertem Singspiel „La guerra d'Amore“, gab es so einen: als kurz vor der Pause Marisa Martins beim Tanzen mit ihrem welterschütterndem Mezzosopran eine von Monteverdis schwermütigen Madrigalen intonierte und man für einen kurzen Moment glaubte, Kunst und Leben könnten doch verschmelzen. Oder bei der Abschlussvorstellung, Falk Richters und Anouk van Dijks „Nothing Hurts“, als die verausgabten Performer an den Rändern der Bühne lagen und rauchten, aber jeder Zentimeter der leeren Bühne zwischen ihnen mit Energie erfüllt war. Bei Stefan Bachmanns „Jeff Koons“, wenn die Figur des Kritikers mit Rainald Goetz die Kritik endgültig leer redet, während putzige Kunstteddys fröhlich kopulieren und sich dann die Eingeweide rausreißen. Und beim 12-stündigen Shakespeare-Marathon „Schlachten!“, wo das britische Imperium parallel zur Sprache zerfällt, so dass Thomas Thieme am Ende nur noch haltlos wahnwitzige Wortbrocken spuckt.
Glückliche Momente waren das, in denen man ahnte, dass das Theater doch noch atmet. Unglücklicherweise standen sie Stunden gegenüber, die glauben machten, dass die fensterlosen Häuser bereits seit Jahren keinen Wind vom Draußen mehr bekommen haben. Es beginnt damit, dass drei der geladenen zehn Stücke von Shakespeare sind. Ein genialer Dramatiker, zweifellos; doch fragen Sie ihren Nachbarn oder demnächst mal an der Supermarktkasse – der Mann ist seit einigen Jahren tot. Das ewige Beharren des Theaters auf seiner Aktualität ist auch die Kehrseite einer Feigheit, aktuell virulente Themen auf die Bühne zu holen. Nicht dass man es dem Elisabethaner zum Vorwurf machen könnte, doch so scharfsinnig er die die Strukturen der Macht analysierte – von den existenziellen Bedrohungen des 21. Jahrhunderts, Globalisierung, Medialisierung und entschlüsselten Gencodes, hatte er keinen Schimmer. Wer sie dramatisch diskutiert sehen wollte, musste dieser Tage zum parallel stattfindenden 150.000-Mark-Budget-Festival „reich & berühmt“ gehen, das unter anderen interessanten Experimenten die Uraufführung von René Polleschs „Heidi Hoh arbeitet hier nicht mehr“ zeigte. „Früher lebten auf diesem Planeten Menschen. Heute campen alle am Arbeitsplatz“, ist dort nur die Ausgangssentenz, unsere virtuell veränderten Wirklichkeitsräume auszuleuchten.
Tatsache ist, dass das Stadttheater, allen Manifesten pro Realismus zum Trotz, extreme Schwierigkeiten mit der Wirklichkeit hat. Die Selbstreferenzialität, die ihm von Seiten der Berliner Schaubühne vorgeworfen wird, ist dabei keineswegs auf die Ästhetik der Inszenierungen beschränkt. Vor allem die Selbstwahrnehmung des Staatstheaters – einschließlich der Schaubühne – ist einem illusionären System verhaftet, das die eigene Institution noch immer als Kirche im Dorf sieht. Geradezu rührend war es, wie auf den Podiumsdiskussionen der Festspiele das Theater immer wieder als letzter öffentlicher Ort der Kommunikation der zersplitterten Gesellschaft beschworen wurde – ganz so, als würde ein Theaterabend mehr Diskussion auslösen als ein Kinobesuch, als würden Menschen in Bars nicht reden.
Ebenso blind das Beharren auf der Live-Qualität des Mediums: Das Theater könne nie sterben, verkündete Thomas Langhoff, allen Besucherzahlen – und besonders den eigenen im Deutschen Theater – zum Trotz, da die Sehnsucht zu groß sei, „einmal am vergänglichen Augenblick teilzuhaben“. Welcher Augenblick zum Teufel ist denn nicht vergänglich? Da sitzt man dann im Spiegelzelt vorm Schiller Theater und schämt sich, dass das Theater dümmer als die Kosmetikindustrie ist.
Der größte CDU-Skandal der Nachkriegspolitik, Big Brother und das Internet, scheinen an der Kunstform, die sich noch immer als die unmittelbarste verkauft, im Wesentlichen spurlos vorbeigegangen zu sein. Die Spendenaffäre hätte doch genug Stoff für ein spannendes Drama geben können, mahnte Rita Süssmuth am vergangenen Sonntag den Regisseur Thomas Bischoff. Nun ist es nicht so, dass aktuelle Themen im Verhältnis eins zu eins auf die Bühne müssten. Aber Frank-Patrick Steckels Behauptung, die „aktuelle künstlerische Erschöpfung ist Folge der politischen Erschöpfung, die kein Spannungsfeld mehr bietet“, ist Ausdruck skandalöser Schlafmützigkeit. Sein Aufheulen, welch „Armutszeugnis“ es für die deutsche Kultur sei, dass Peter Stein die 30 Millionen für seine Faust-Inszenierung bei DaimlerChrysler holen musste – es ist doch Goethe! und Stein einst Feind der Industrie! –, ließ den Zuhörer der „Theater Macht Politik“-Diskussion auf der Stelle wider besseres Wissen zum erklärten Feind des Subventionstheaters werden.
Weshalb Steckels in Köln entstandener „Edward III.“ nach Berlin geladen war, konnte die schicke Kunstfertigkeit der Inszenierung nicht hinreichend erklären. Auch was Leander Haußmanns „John Gabriel Borkman“, ein Ibsen im gängigen Stadttheaterformat, die Ehre verschaffte, erschloss sich dem buhenden Publikum nicht. Vermutlich war's als Geschenk gedacht an den scheidenden Intendanten, der sich nach fünf Jahren Bochum nun wieder auf dem freien Markt platzieren muss. Da nimmt man „den Oscar des deutschen Theaters“, wie Torsten Maß es formuliert, natürlich gerne mit.
„Von uns etablierte Systeme, die uns nicht helfen, müssen zerstört werden“, erklärte Elisabeth Schweeger, noch Leiterin des Münchner Marstalls und bald Intendantin in Frankfurt, gleich zu Beginn des Theatertreffens. „Wirklichkeitsräume brauchen engagierte Hackergenerationen“, flüsterte Heidi Hoh. Weder ihn noch seine Studenten interessiere Theater, sagte Boris Groys, Kulturphilosoph am Zentrum für Medientechnologie in Karlsruhe. Das Theater setze sich noch immer mit Alltag in Form von Küche auseinander, anstatt sich im medialen Raum zu behaupten.
Leben heißt zu sterben suchen, aber in gewissen Situationen bedeutet Sterben auch den Tod. Das Theater muss verdammt aufpassen, weil es sonst von Menschen abgeschafft wird, die es gar nicht retten wollen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen