Wie werde ich ein typischer Sozi?

Was Sie tun und wie Sie denken müssen, wenn Sie in der ältesten deutschen Partei mitmischen wollen, ohne jemandem weh zu tun

von RALPH BOLLMANN

Die SPD ist mehr als eine Partei – sie ist ein Phänomen. Mit den Gesetzen der Logik kommen Sie hier nicht weit. Vergessen Sie einfach alles, was Sie in Politik-Lehrbüchern gelesen haben. Bei den Sozialdemokraten gelten andere Regeln. Wollen Sie dort nicht anecken, müssen Sie mindestens zehn Voraussetzungen erfüllen.

1. Seien Sie theoretisch ein Revolutionär und praktisch ein Spießbürger.

Im kleinen Kreis wettern Sie auch heute noch gegen den Kapitalismus. Auf dem Parteitag applaudieren Sie trotzdem, wenn der Vorsitzende über „wirtschaftliche Vernunft“ doziert. Das Wort „Shareholder-Value“ ist Ihnen ein Graus. Dennoch folgen Sie dem Beispiel des Sozialexperten Rudolf Dreßler und legen Ihr eigenes Geld in Aktien an. Kurzum – Sie richten sich noch heute nach der Maxime des Parteitheoretikers Karl Kautsky: „Die Sozialdemokratie ist eine revolutionäre, nicht aber eine Revolutionen machende Partei.“

2. Sehen Sie Ihre Partei lieber in der Opposition als an der Macht.

Die SPD stellt den Kanzler? Das interessiert Sie nicht, Sie waren schon immer gegen die Regierung. Sozialdemokraten sollten nach Ihrer Ansicht nur dann Verantwortung übernehmen, wenn es gar nicht anders geht. Die angenehmen Seiten des politischen Lebens überlassen Sie lieber anderen. Dass diese Methode schon in der Weimarer Republik bei den Wählern nicht gut ankam, ist für Sie kein Argument. Sie sind ja kein Opportunist. Die deutschen Parteifreunde, spottete schon 1910 ein italienischer Sozialdemokrat, beteten heimlich im Schlafzimmer: „O Herr, gib, dass wir nicht die parlamentarische Mehrheit erlangen.“

3. Lassen Sie Formalien wichtiger sein als Inhalte.

Die Organisation geht Ihnen über alles. Sie gründen einen Ortsverein, wählen einen Kassenwart und halten Zahlabende ab. Sie können nicht verstehen, warum der Historiker Dieter Groh diesen „Organisationsfetischismus“ für eine „Zweck-Mittel-Vertauschung“ hält. Ihr Vorbild sind die tapferen Genossen, die nach dem Ende der Nazizeit als erstes die Beitragsmarken für die fehlenden zwölf Jahre nachlösten.

4. Bleiben Sie unter sich.

Wer nicht schon als Schüler für die Jusos Plakate geklebt hat, ist nach Ihrer Ansicht als Politiker ungeeignet. Ihr Ortsverein ist für Sie eine Ersatzfamilie. Wer nachträglich dazustößt, wird behandelt wie die böse Schwiegermutter. Wenn Ihr Generalsekretär Quereinsteiger in die Partei holen will, dann schweigen Sie zu diesem Vorschlag so beharrlich, dass die Parteispitze gar nicht mehr darauf zurückkommt. Es schert Sie nicht, dass der Soziologe Robert Michels die SPD-Verbände schon im Kaiserreich für „Veranstaltungen“ hielt, „die wahrlich nicht dadurch an ihrem immanenten kleinbürgerlichen Geiste Abbruch erleiden, dass sie unter sozialdemokratischer Fahne segeln“.

5. Glauben Sie an Autoritäten, auch wenn Sie unentwegt an Ihnen herummäkeln.

Natürlich macht der Parteichef immer alles falsch, aber auf dem Parteitag wählen Sie ihn trotzdem. Auch gegen den Staat hegen Sie ein gesundes Misstrauen. Aber wenn es darauf ankommt, soll er natürlich einspringen. Wenn Sie ehrlich sind, ist dieses Verhalten ein bisschen unerwachsen. Aber schon Kautsky wusste: „In Deutschland sind die Massen darauf gedrillt, immer auf das Kommando von oben zu warten.“

6. Reden Sie viel von Frieden und Völkerfreundschaft.

Trotzdem müssen Sie gelegentlich dem einen oder anderen Kriegskredit zustimmen. Schließlich geht es immer um Benachteiligte, für die Sie als Sozialdemokrat ein offenes Herz haben. Früher mussten Sie das Deutsche Reich verteidigen, heute die Menschenrechte im Kosovo. Dass ein sozialdemokratischer Verteidigungsminister Waffen in Krisengebiete liefern will, finden Sie völlig unproblematisch. Da halten Sie es mit dem Bonmot des amerikanischen Historikers Val Lorwin, wonach den Sozialisten bislang nur eine Nationalisierung wirklich geglückt ist – die des Sozialismus.

7. Haben Sie nichts gegen Ausländer – solange sie Ihnen nicht den Arbeitsplatz wegnehmen.

Denn soziale Gerechtigkeit ist für Sie der wichtigste Wert. Deshalb überlassen Sie die Debatte über ein Einwanderungsgesetz doch lieber den Konservativen. Sie stimmen unserem geschätzten Innenminister voll und ganz zu: Die Grenze der Belastbarkeit ist überschritten. Auch wenn Sie heute nicht mehr ganz so offen über die „Minderwertigkeit slawischer und italienischer Arbeitskraft“ schwadronieren würden, wie es noch vor dem Ersten Weltkrieg in den Sozialistischen Monatsheften zu lesen war.

8. Seien Sie für den Fortschritt, aber tun Sie bitte nichts dafür.

Schließlich geht die Geschichte auch ohne Sie ihren Gang. Kapitalismus, Sozialismus oder Globalisierung – sie kommen und gehen wie Naturereignisse, daran können Sie ohnehin nichts ändern. Schon Ihr Parteigründer August Bebel hat sein ganzes Leben immerhin damit verbracht, auf den „großen Kladderadatsch“ zu warten.

9. Reden und Handeln müssen für Sie zwei grundsätzlich verschiedene Dinge sein.

Welche Politik der sozialdemokratische Bundeskanzler macht, ist Ihnen so gut wie gleichgültig. Wichtig ist, dass er auf dem Parteitag über „soziale Gerechtigkeit“ spricht. Warum der Theoretiker Eduard Bernstein diesen Widerspruch schon vor hundert Jahren auflösen wollte und dafür viel Prügel riskierte, können Sie sich bis heute nicht erklären. Sie halten es lieber mit dem Genossen Ignaz Auer, der Bernstein damals belehrte: „Mein lieber Ede, so etwas sagt man nicht, so etwas tut man.“

10. Zögern Sie nicht, sich in der Politik zu engagieren.

Sie glauben, dass Ihnen der nötige Schwung fehlt? Nur keine Angst, denn in der SPD sind Sie goldrichtig. Hier haben alle die Orientierung verloren. „Die Leute wollen nur noch wissen: Wo geht’s lang?“, klagt etwa die baden-württembergische Landesvorsitzende Ute Vogt. Da hat sich in 125 Jahren Parteigeschichte nicht viel geändert. Bereits im Jahr 1906 wusste der Soziologe Max Weber vom damaligen Mannheimer Parteitag zu berichten: „Mannheim war sehr ‚klatrig‘. Ich hörte bei Bebel u. Legien mindestens 10 Mal: ‚unsre Schwäche‘ betont. Dazu der ganze äußerst kleinbürgerliche Habitus, die vielen behäbigen Wirtsgesichter, die Schwunglosigkeit, ohne doch den Entschluss, nun die Consequenzen ‚nach rechts‘ zu ziehen, wenn der Weg ‚nach links‘ versperrt ist oder dafür gilt. Diese Herren schrecken Niemand mehr.“