: Falten zeigen
Die Zukunft ist digital und schick: Beim Filmfestival in Cannes haben nur wenige Regisseure die Tür zur Wirklichkeit gefunden
von KATJA NICODEMUS
„Ich will das zeigen, was man sonst nicht sieht“ – im Film des Taiwaners Edward Yang sagt das ein kleiner Junge, der gerade einen Fotoapparat geschenkt bekommen hat. Es ist natürlich auch ein Satz, in dem das Kino von sich selbst spricht und gewissermaßen symbolisch seine eigene Zukunft sichert. Man kann sich zum Beispiel vorstellen, dass der Steppke aus Yangs „Yi Yi“ irgendwann eine im Wind herumwirbelnde Plastiktüte filmt, so wie sein etwas älterer Kollege in „American Beauty“.
Um das Unsichtbare bzw. die Rückseite der Dinge (oder auch wie bei Yang die Hinterköpfe der Mitmenschen) zu zeigen, wird man immer eine Kamera brauchen, und das hat durchaus etwas Beruhigendes. Nun sind die Franzosen allerdings Weltmeister im Anzetteln von Debatten, die jede Form der Zukunft grundsätzlich in Frage stellen. So gab es im Umfeld der Filmfestspiele von Cannes jede Menge medientheoretische Diskussionen, bei denen die Filmemacher ihre Arbeits- und Ausdrucksmöglichkeiten immer wieder von einem merkwürdig konturlosen Problem bedroht sahen: dem Gespenst der digitalen Technik. Unter dem beunruhigende Assoziationen weckenden Stichwort „mutation numérique“ wurde die digitale Frage täglich in Libération verfolgt, in Le Monde war etwas nüchterner von „nouvelles techniques“ die Rede. Bei den befragten Regisseuren pendelte die Zukunft des Kinos mal ins zart Optimistische, mal ins Desaströse, meistens ins Ungewisse. Eher hilflos und auch ein bisschen chaotisch befasste sich das Symposium „Le cinéma à venir“ in den ersten Festivaltagen mit allerlei Virtuellem bzw. den kleinen Kameras und ihren, nur in diesem Punkt waren sich alle einig, großen Auswirkungen.
Sieben Millionen Bilder auf der Netzhaut
Auf der Leinwand war davon allerdings so gut wie nichts zu spüren. Wenn man in zehn Tagen Cannes etwa vierzig Filme sieht, dann haben ungefähr sieben Millionen einzelne Filmbilder einen Lichteindruck auf der Netzhaut hinterlassen. Das sind sieben Millionen Bilder aus allen Winkeln der Welt, aufgenommen von Menschen, die sich zu einem im weitesten Sinne künstlerischen Ausdruck berufen fühlen. Nun waren die meisten dieser Bilder allerdings so enttäuschend konventionell, altmodisch und von keinerlei Bezug auf eine Welt jenseits des geschlossenen Initialsystems Cannes, dass eigentlich relativ unerheblich ist, wie ihre Autoren irgendwann mit den neuen Techniken zurechtkommen. Anders gesagt: Was interessiert uns eigentlich die Kinozukunft, wenn sie von Leuten geprägt wird, die es nicht für nötig halten, sich mit der Gegenwart zu beschäftigen?
Meinetwegen auch mit der Gegenwart des Jahres 1671. Die überwältigende Präsenz der Kostümfilme („Vatel“ von Roland Joffé, „The Golden Bowl“ von James Ivory, „Esther Kahn“ von Arnaud Desplechin, „Les destinées sentimentales“ von Olivier Assayas etc.) war in Cannes nur deshalb eine Qual, weil sie ihr historisches Thema auch noch durch historisierende Erzählweisen ins filmische Plusquamperfekt überführten (Desplechin zum Beispiel mit altmodischen Kreisblenden) oder es einfach nur bei der Ausstattung beließen (Ivory). Uma Thurman im Reifrock bleibt eben Uma Thurman im Reifrock, wenn einem sonst nichts dazu einfällt.
Dabei kommt die Gegenwart weder durch pseudohippen Digi-Schick noch durch die verkrampft-verwackelten Bilder diverser Dogma-Epigonen auf die Leinwand. Es geht ganz schlicht um eine Haltung, mit der man auf die Welt blickt und Filme macht. Das kann zum Beispiel die ehrliche Zuneigung sein, die einige kleinere britische Filme des Festivals ihren pubertierenden Helden entgegenbringen. Diese zähen Jungs, die irgendwo in den Backsteinsiedlungen der englischen Provinz die Schule schwänzen, sich gegen prügelnde Proletenväter behaupten und für ihre Teenie-Träume kämpfen – sei es der als weibisch verpönte Ballettunterricht oder eine Saisonkarte fürs Stadion von Newcastle.
Bei Wong Kar-Wai ist es die Haltung zur Gegenwart eines Gefühls. In „In the mood for love“ werden Maggie Cheung und Tony Leung zu den Helden eines lyrischen Augenblicks im Hongkong des Jahres 1962. Ihre Bewegungen, die in seinen Augen zur Zeitlupe werden, Zigarettenrauch, der sich in der Schwärze eines nächlichen Zimmers ganz langsam verflüchtigt. Und ihre eleganten wild gemusterten Sommerkleider, die vielleicht auch nur in seiner Erinnerung alle gleich perfekt auf ihren Körper zugeschnitten sind. Die Nachbarn, die Flure, die exzentrischen Sechzigerjahre -Tapeten, ein melancholischer Walzer – alles wird zum devoten Hintergrund für dieses melancholische schöne Paar, das sich liebt, aber nicht bekommen wird.
Es gab sie auch, die Versuche, von unserer ganz konkreten, politisch-sozialen Gegenwart zu erzählen. Kommunikationsschwierigkeiten, die latente Gewalt der Konsumgesellschaft – Michael Haneke, der österreichische Moralist und Schwarzblenden-Fetischist, redete auf der Pressekonferenz in Cannes in genau den Sozialkunde-Platitüden, gegen die man seine Filme so oft verteidigen musste. Sein Wettbewerbsfilm „Code Inconnu“ befindet sich allerdings auf genau dieser Ebene des politisch-korrekten und irgendwie folgenlos konsensfähigen Diskurses. Leben in der Moderne, so die permanente Unterstellung der einzelnen Szenen, bedeutet Schuldigwerden durch Gleichzeitigkeit. Schuldig ist, wer in Pariser Restaurants tafelt, während im Kosovo der Krieg tobt. Wer in der Wohnung weiterbügelt, obwohl bei den Nachbarn verzweifelt ein Kind schreit (das am Ende des Films beerdigt wird). Wer zur Arbeit hastet, einkauft oder sonstwie die Zeit vertut, während rassistische Polizisten einen Farbigen festnehmen usw. Die Hilflosigkeit, mit der Hanekes Figuren auf diese Situationen reagieren, geht allerdings nicht in die Inszenierung ein. Hinter oder besser über den Bildern steht ein Ankläger und Besserwisser, einer, der sich selbst durch bloßes filmisches Formulieren die Absolution erteilt. Einmal montiert Haneke mehrere Aufnahmen von Leichen aus dem Kosovo agressiv hintereinander. Genau diese selbstgerechte Haltung unterscheidet ihn von Jean-Luc Godard, der in seinem Kurzfilm „L'Origine du XXI. siècle“ mit solchen Bildern behutsam, ratlos, fragend umgeht und damit auch die eigene Ohnmacht miterzählt.
In einer Szene, die vielleicht die treffendste dieses Festivals war, gelingt es Haneke dann doch: Juliette Binoche sitzt in der U-Bahn und wird von einem jungen Araber als bourgeoise Tusse beschimpft und bespuckt. Am Ende bricht sie in Tränen aus. In dieser einen Einstellung ist sie plötzlich da, die ganze Hilflosigkeit gegenüber den Dingen, die Gegenwart, als unbestimmtes, unspektakuläres und irgendwie banales Drama.
Nah am Drama, trotzdem bigger than life
Zweimal schaffte es das Kino in Cannes, ganz nah an diesem Drama und trotzdem bigger than life zu sein. In zwei radikalen Arbeiten, die beide konsequent an die Grenze ihrer einmal ganz klassischen, einmal digitalen Filmsprache gingen. In Shinji Aoyamas „Eureka“ sind die schwarzweißen Cinemascope-Bilder von einer so imperialen Ruhe, dass man das Gefühl hat, die Leinwand müsste sich an den Rändern weiter ins Unendliche ausdehnen. Gerade weil diese Geschichte von drei traumatisierten Menschen kaum äußere Aufregung hat, droht hinter jeder noch so sanften Kamerabewegung die totale Erschütterung.
So Schwindel erregend Lars von Triers Kamera um das Gesicht seiner Hauptdarstellerin Björk kreist und so exzentrisch die Musical-Szenen ins Geschehen platzen – in seinem Film „Dancer in the Dark“ setzt sich vor allem eines durch: Die Trauer um eine verpfuschte Existenz und das Mitgefühl mit einer koboldhaften Heldin, die mit ungeheurer Energie bis aufs Letzte dem Schicksal trotzt, das die Welt für sie vorgesehen hat. Und von der ganz großen Bewegung in die kleine, ganz private. In „Les glaneurs et la glaneuse“ („Die Sammler und die Sammlerin“) geht Agnès Varda mit einer kleinen digitalen Kamera auf Reisen und tut das, was sie ihr ganzes Leben getan hat: Nicht über die Dinge, sondern von den Dingen sprechen. In diesem Fall von Menschen, die durch das Sammeln von Abfällen und Resten leben und überleben. Es ist auch ein Film über die Bildersammlerin Agnès Varda geworden. Und über das eigene Altern, die Einsamkeit, die Erinnerung. Einmal filmt die Zweiundsiebzigjährige mit der einen Hand die andere. Falten, Altersflecken, Sommersprossen. Da ist sie plötzlich ganz nah, die Zukunft des Kinos.
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