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Könige der Kaufhäuser

... statt Verlierer in der Schule: Thomas, Hans, Ulf, Bo und die Angst vor dem Unterricht  ■ Von Peter Brandhorst

Gestern, klagt Thomas,

der Elfjährige, war kein guter Tag. Morgens im Bus die Kontrolle der Fahrscheine, dann im Kaufhaus der Nerv wegen einer geklauten CD. Und vor allem, stöhnt Thomas, „hat Hans mich noch geärgert. Dann prügle ich mich.“ Heute hockt Hans, der Gleichaltrige, schon einen halben Vormittag lang vor dem Riesenbildschirm in der Kinderabteilung eines Innenstadtkaufhauses. Der Hans, sagt Thomas, ist süchtig nach Zeichentrickfilmen, „aber jetzt zickt er rum. Und dann spricht er nicht mit mir.“ So, dass auch Hans ihn hören kann, fügt er schnell hinzu: „Sonst ist er mein Freund“.

Später wird es doch noch ein schöner Mittag für beide. Bei den Regalen mit den Computerspielen fahren sie an einer Playstation Runde um Runde gegeneinander Autocrash-Rennen. „Uii!“, triumphiert Thomas, nachdem diesmal er ein Fahrzeug mit höchster Punktzahl von der Strecke gerammt hat, „voll zerstört!“ Und Hans ergänzt mit seiner ganzen Erfahrung des Elfjährigen: „Man muss immer kämpfen dabei. Nur wer überlebt, der hat gewonnen.“

Zwei kleine Jungen, die Platz gesucht und gefunden haben in den großen Kaufhäusern der Hamburger Innenstadt und viel Zeit mitbringen für Playstation und Super-Nintendo. Morgen beginnt dann wieder ein neuer Kampf, eine neue Chance. Mit dem Wissen, dass sie eigentlich nur gewinnen müssen, um überleben zu können, und manchmal doch auch mit der Ahnung, im Leben vielleicht schon verloren zu haben. Zwei, die Schule getauscht haben gegen Schule schwänzen. „Im Unnormalfall“, umreißt Thomas, der Wilhelmsburger, seinen Alltag an einer Förderschule, „bin ich zweimal die Woche dort. Sonst gar nicht“. Ulf, ein Zwölfjähriger, ebenfalls aus Wilhelmsburg, beginnt manchen Satz in abgeschlossener Vergangenheit: „Als ich noch zur Schule ging.“ Vor ein paar Wochen haben sie sich auf der Mönckebergstraße mit Hans angefreundet, der morgens aus St. Pauli herüber kommt, weil „Schule immer so brutal“ ist.

Noch existieren keine

verlässlichen Erhebungen über das tatsächliche Ausmaß an Schulverweigerung. Doch das Problem wächst. Das Christliche Jugenddorfwerk CJD, ein zum Diakonischen Werk zählender bundesweit tätiger Träger für Bildungs- und Jugendsozialarbeit, schätzt, dass in Deutschland bis zu 70.000 Mädchen und, vor allem, Jungen regelmäßig den Unterricht schwänzen. Das sind meist Kinder aus sozial schwachen Verhältnissen, aus benachteiligten Quartieren mit überforderten Elternhäusern, die sich irgendwann gänzlich verweigern.

Man müsse „einen deutlichen Zusammenhang erkennen zwischen sozialer Schichtung und Schuleschwänzen“, sagt Michael Grüner, bei der Hamburger Schulbehörde Leiter der Schülerhilfe. Schulpsychologe Grüner beobachtet zwei wesentliche Verweigerungsgründe. Oftmals handele es sich um psycho-soziale Probleme, wenn Kinder aus schwierigen familiären Zusammenhängen nicht lernen, „sinnvoll den Tag zu gestalten“. Dort gehörten „eher die Eltern auf den Pott gesetzt“, sie benötigten Hilfe. Hingegen habe man es mit den psychologisch-therapeutischen Problemen junger Menschen zu tun, wenn sich diese angstbesetzt verweigern. „Früher“, sagt Ulf, der Zwölfjährige, „als ich noch zur Schule ging, da habe ich immer gedacht, mich verfolgt ein großer Junge, und der will mir was tun.“

Angst vor der Angst, der Kampf mit Depressionen und Phobien, sich zur Wehr setzen müssen gegen körperlich überlegene Schüler oder auch nur das Wissen, schulischen Anforderungen nicht entsprechen zu können, womöglich sogar das Gefühl, einem Lehrer ausgeliefert zu sein – wer darunter leidet, dem kommt sein Schritt weg von der Schule zunächst befreiend vor. „Seit ich nicht mehr zur Schule gehe“, erzählt Ulf ganz stolz, „kriege ich hier auch Zigaretten angeboten!“ Zuvor, will er sagen, ist er überall nur geschubst und gestoßen worden, Achtung und Anerkennung fand er nicht.

Fast jeder fünfte Jugendliche zwischen zwölf und siebzehn Jahren kennt Angstattacken aus eigenem Erleben, so das Ergebnis einer Studie der Universität Bremen aus dem vergangenen Jahr. Und noch ein Umstand – vor allem seine Folgen – findet zunehmend Beachtung: Schon kleine Kinder mobben, genau so wie später als Erwachsene. In jeder Schulklasse werden mindestens ein bis zwei Kinder systematisch zermürbt, wie eine am Psychologischen Institut der Münchner Universität durchgeführte Untersuchung zeigt.

„Gemobt werden die Außenseiter“, sagt Jutta Bartlog, Mitglied im Leitungsgremium einer Wilhelmsburger Gesamtschule. „In der Schule“, beschreibt Hans, der Viertklässler, „war ich immer der Schlechteste. Deshalb hassen mich alle und sagen: so einen Doofen können wir hier nicht gebrauchen.“ Zu Hause und in der Klasse bleibt ihm nur die Sündenbock-Funktion, im Kaufhaus ist er dann der Könner. In der Schule meist heillos überfordert, wird er beim Nintendo manchmal fast sogar bestaunt. „Playstations“, rufen die Kaufhaus-Kids, „sind richtig super-geil! Man kann damit machen, was man will. Sonst machen das immer nur die anderen mit einem.“

So versuchen sie zu leben,

zu überleben, ohne allzu viele Kränkungen erfahren zu müssen. Das Gefühl, zu versagen, ist ihnen alltäglich, Bestätigung bekommen sie kaum. Manch einer will lernen, doch in der Schule gelingt das meist nicht. Zwölf Prozent aller Hamburger Schüler verlassen sie ohne Abschluss. Etwa 840 Hamburger Jugendliche werden im Jahr, oft mit Beginn ihrer Pubertät, der staatlichen Schülerhilfe als notorische Schulverweigerer gemeldet. Doch das sind, wie es an einer Schule nüchtern heißt, lediglich „unsere Bankrotterklärungen“, die tatsächliche Zahl der sich den Schulen verweigernden Kinder und Jugendlichen dürfte um ein Mehrfaches höher sein.

Manch einer rutscht schwänzend lange Zeit durch irgendeine Bildungseinrichtung, ohne dass es dort bemerkt, ohne dass darauf reagiert wird. Mit anderen Kids wird sich durchaus intensiv ausschließlich vor Ort beschäftigt, und wiederum andere finden sich schließlich abgeparkt wieder in Berufsvorbereitungsklassen oder sonstigen Maßnahmen, ohne dass auch sie zuvor noch als Datenfutter für statistische Jahreserhebungen gedient hätten.

Vielen mangelt es an Unterstützung, ein eigenes Leben bewältigen zu können. Ulf sagt, manchmal wünsche er sich einen Zauberstab, „dann würde ich mich zum König zaubern, und dann könnte ich alles selbst“. Für einige, denen es auch über längere Zeit nicht gelingt, Anker zu werfen in einer ihnen fremden und feindlichen Welt, war dies dann eine erste Etappe auf dem Weg in eine ungewisse Zukunft. Wer seine Zeit noch in Kaufhäusern verbringt, stiehlt kaum anderer Leute Handtaschen. Und nicht jeder, der Schule verweigert, gerät schon deshalb in Konflikte mit Gesetzen. Doch fast alle, die später irgendwo in Knästen landen, sind zuvor in ihrem Leben auch an der Schule gescheitert.

Bo, ein 15-Jähriger

aus Altona, der seit zwei Jahren nur noch unregelmäßig zur Schule geht, sagt, eigentlich sei er immer gut gelaunt. „Man darf mich aber nicht dumm anlabern“, sonst entgleiten ihm leicht seine Aggressionen. Ich hab inzwischen, sagt Bo, „schon ganz schön Routine, mit Achten in Peterwagen einzusteigen“, wie er Handschellen umschreibt. Gewalt wird, wo sie vorkommt, auf Straßen ausgeübt, in Parks, irgendwo draußen, nicht selten Gleichaltrigen gegenüber.

Die Politik reagiert

auf Schulverweigerer zunehmend aufgeregter und hilflos. Bayerns CSU-Innenminister Günther Beckstein forderte Anfang des Jahres gar Polizeieinsätze gegen Schulschwänzer, wie sie bereits in Nürnberg praktiziert werden. Polizisten durchkämmen Kaufhäuser, und wen sie dort antreffen, den führen sie zurück zu Eltern oder Lehrern. Jede zufällige Begegnung gerät so zu einem zusätzlichen Strich auf irgendwelchen Listen, jeder Jugendliche ganz offiziell zu einem Problem. Hinter dem seine Probleme hingegen verschwinden. Einige Bundesländer verhängen Bußgelder, auch Hamburgs SPD hat jüngst auf ihrem Landesparteitag gefordert, „dem dauerhaften und wiederholten Fernbleiben von der Schule mit Bußgeld zu begegnen“. Ein wohl untaugliches Bemühen. Wer auch noch materiell verarmt ist und, als Beispiel, von Sozialhilfe leben muss, wird solche Forderungen kaum erfüllen können. Vielleicht auch nicht wollen.

Dabei wird in verschiedenen Städten durchaus versucht, neue Wege zu beschreiten. Schule für Schulverweigerer, in unterschiedlichen Varianten, ist die Idee. Jugendlichen doch noch die Möglichkeit eines Hauptschulabschlusses zu bieten, die bisher durch alle Maschen des herkömmlichen Systems gerutscht sind, das Ziel. „Stadt als Schule“ heißt ein Projekt, das seit 1992 erfolgreich in Berlin arbeitet und vom kommenden Schuljahr an in Hamburg als Modellprojekt übernommen werden soll. Schulmüde Jugendliche arbeiten an mehreren Tagen pro Woche in Betrieben. Das soll ihnen das Gefühl vermitteln, etwas Sinniges und Wichtiges bewirken zu können.

Ein Prinzip, nach dem seit knapp einem Jahr auch die „Produktions-Schule Altona“ arbeitet. Zunächst als Modellversuch noch auf grüner Politikschiene mit Sozialdemokraten im Koalitionsvertrag ausgehandelt, finden dort 40 Mädchen und Jungen eine neue Chance, die zuvor an Schule kein Interesse mehr hatten. Lauter Kids, die in ihrem bisherigen Leben keine Strategien hatten, um Probleme zu lösen. „Kleine Ziele müssen wir anpeilen, die Jugendlichen zunächst stabilisieren“, sagt Kay Stöck, stellvertretender Leiter an der Produktions-Schule, und manchem kommt es dann vor wie ein großer Schritt, wenn das selbst gezimmerte Möbelstück bestaunt oder eine Grundrechenart verstanden wird.

Schule wird plötzlich zu einem wichtigen Halt im Leben dieser jungen Menschen, wenn sie zudem noch erkennen, mit persönlichen Problemen durch stets geöffnete Türen treten zu können. „Wir sind“, sagt Lehrer Stöck, „eine praktisch gewaltfreie Schule, an der es den traditionellen Schwänzer nicht gibt.“ Überforderte, manchmal schon in ganz jungen Jahren scheiternde Kinder, oft allein gelassen in der Schule und zu Hause sowieso.

Neulich, sagt Thomas

vor seiner Playstation in der Innenstadt, habe seine Mutter ihn vormittags auf der Straße getroffen, „aber sie bestraft mich nicht. Die schlägt nur zu.“ Im Leben draußen, vor Bahnhöfen und in Kaufhäusern, in Parks und auf Straßen, suchen sie Spaß mit Abenteuer und finden Ablenkung, manchmal sogar Anerkennung. Schwänzen heißt für sie Auflehnung und Provokation, ist Flucht vor der Realität und Leben mit Wunschträumen. „Morgen“, sagt Hans, „gehe ich wieder zur Schule.“ „Ganz bestimmt“, schwört Thomas, der Förderschüler, „mache ich noch meinen Realschulabschluss“. Später will er nämlich Fußballprofi werden, „und dann kriege ich ja auch Geld dafür, da muss ich rechnen können“. Ein paar Probleme, denkt Thomas, habe er bisher schon gelöst in seinem Leben, „zum Beispiel alten Omas Taschen tragen helfen, man bekommt Geld dafür“. Doch: „Manches muss ich wohl noch erleben. Aber ich bin ja auch erst elf Jahre alt.“

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