: Dritter Klasse
Schlussbemerkungen zur Lage
von GABRIELE GOETTLE
Am oberen Ende des Kurfürstendammes, da, wo er bereits recht schäbig ist, hat sich in das Eckgebäude Joachim-Friedrich-Straße eine Bäckerei eingemietet. Weil genug Platz ist, wurden vor dem Geschäft ein paar Tischchen und Bistrostühle aufgestellt. Hier kann der Kunde das drinnen Gekaufte verzehren. Die Preise sind bemerkenswert niedrig und da man keine großen Ansprüche hat, kann sich auch der minderbemittelte Kunde bei einem Glas Selters oder der mitgebrachten Bierbüchse längere Zeit ungestört zurücklehnen und von einem Ku’damm-Café aus das vorbeitreibende Leben beobachten. Rund um die mit einem Mäuerchen eingefasste kleine Grünanlage, lehnen polizeieigene Drängelgitter. Zwei fahrbare Metalltürme zur bemannten Verkehrsregelung scheinen ebenfalls dauerhaft abgestellt zu sein. Gleich über der Bäckerei befindet sich das türkische Konsulat, verbarrikadiert mit Nato-Draht, überwacht von Kameras. Unentwegt patrouillieren zivile Wachdienstmänner und zwei Polizisten in Sommeruniform an den Gästen vorbei. Man schützt das Gebäude gegen kurdische Demonstrationen und Anschläge. Schräg gegenüber, im linken Eckhaus, ist die gesamte untere Etage erleuchtet. Durch die großen Fenster sieht man einige Personen auf komfortablen Liegen lagern. Über ihren Köpfen schweben transparente Infusionsbeutel, befestigt an chromblitzenden Ständern. Es handelt sich um ein Institut, das gegen schlechte Bezahlung Blut zapft und teures Plasma daraus gewinnt. Aus diesem Grunde ist an dieser Ecke eine starke Fluktuation von Arbeitslosen, Abgebauten und anderen Erwerbslosen. Und noch ein Stück weiter, auf der anderen Seite der Joachim-Friedrich-Straße, liegt, von hier aus nicht zu sehen, die City-Station, eine Einrichtung der Berliner Stadtmission für Bedürftige.
Am Nebentisch nehmen drei Personen Platz, ein weißhaariger Mann mit rundem Kopf und Gehhilfe, sowie ein untersetzter Mittfünfziger mit nach oben sich leicht zuspitzender Halbglatze und eine kleine, korpulente Frau mit Brille und herausgewachsenen Dauerwellen. Sie trägt einen geblümten Sommerrock und entschieden zu kleine und zu enge Sandalen mit Korkabsätzen, über die beim Gehen die geröteten Ballen hinausgedrängt werden. Die Frau holt für sich und die beiden Männer von drinnen zwei trockene Brötchen und drei Tassen Kaffee. Eine leichte Bö fegt von Halensee kommend den Ku’damm hinunter und reißt Papier und Zementstaub von der gegenüberliegenden Baustelle eines Seniorenstiftes in die Luft. Die beiden Männer am Nebentisch niesen, dann sagt der Spitzkopf: „Ja, Gesundheit ebenso ... eigentlich geht es uns ja ganz gut, obwohl ich so viele Probleme hatte, wie noch nie in meinem Leben, weil wir momentan Kapitalismus haben.“ Er bricht sich ein Stück vom Brötchen ab, und der Rundkopf sagt mit Nachdruck: „Und der bleibt auch!“ –„Wer will das so genau wissen?“ fragt der Spitzkopf, „unsers ist auch plötzlich zu Ende gewesen, und keiner hat das für möglich gehalten.“ Die Frau blickt sinnend einer stark geschminkten alten Dame in rotem Kostüm hinterher, die zwei Zwergpinscher an zwei Leinen mit sich führt. Der Rundkopf sagt altväterlich: „Es ist doch einfach so, der Kapitalismus hat sich weltweit durchgesetzt“, und mit unüberhörbarem Stolz, „das ist das erfolgreichste System, das es gibt, ein erfolgreicheres hat es noch nie gegeben. Und dass du hier am Ku’damm einen guten Kaffee trinkst und nicht drüben im Osten verfaulen musstest, das verdankst du dem Kapitalismus!“ Die Frau trinkt stumm Schluck um Schluck und beobachtet einen grauhaarigen Mann, der geschickt auf seinen roten Inlineskates zwischen den Fußgängern hindurchkurvt. „Gut“, sagt der Spitzkopf, „ich hab meine Freiheit, und ich habe satt zu essen, alles, obwohl ich keine Arbeit und nichts habe, und da zu den Blutsaugern hin muss, das verdankne ich vielleicht dem Kapitalismus. Gut, wenn der nicht gekommen wäre, dann würde ich heute hier nicht sitzen, ich wäre aber bei meinen Schafen, in meiner LPG und, ehrlich gesagt, da war ich zufriedener als heute. Was habe ich denn eigentlich davon? Seit 89 will ich mal einen schönen Rotwein trinken in Frankreich, das war so mein Traum, aber bis jetzt habe ich das noch nicht geschafft, und werde das auch nie schaffen!“ Die Frau ruft aus: „Den gibt’s doch um die Ecke im Supermarkt. Bei Aldi für vierneunzig.“ Der Rundkopf lacht meckernd, und der Spitzkopf sagt in klagendem Tonfall: „Wir DDR-Bürger ham 89 gedacht, jetzt kriegen wir alles, so, wie die im Westen, wir ham aber nur Arbeitslosigkeit und Aldi gekriegt.“ Die Frau wirft den herumstolzierenden Tauben Krümel ihres Brötchens hin, und der Rundkopf knurrt abfällig: „Ihr wärt doch alle Mann schon allein für Aldi abgehauen von drüben; fürs Begrüßungsgeld und Aldi!“ Die Frau kichert. „Ich nicht!“ empört sich der Spitzkopf. „Mir ging’s gut, ich hatte mir ein kleines Nebengebäude ausgebaut, ich hatte meinen Trabi, meine Arbeit und meine Frau – sie war Zootechnikerin ...“ – „Nur deine Freiheit hattest du nicht!“ trumpft der Rundkopf auf. Eine weitere kräftige Bö fährt durch die Straßen; der Himmel verfinstert sich, alles sieht nach einem bevorstehenden Unwetter aus. Die Frau bringt die Tassen hinein, der Spitzkopf schließt seinen Anorak und sagt: „Was habe ich denn jetzt von meiner Freiheit? Früher ist die Familie am Wochenende oft einfach rein in den Trabi und rauf ging’s an die Ostsee. Heute kann ich mir nicht mal die U-Bahn leisten!“ Der Rundkopf sagt: „Ihr Ossis, mit eurem ewigen Gejammer, ich kann’s nicht mehr hören!“, dann greift er zu seiner Gehhilfe, zieht sich langsam vom Stuhl hoch und fährt stockend in Begleitung der beiden anderen davon. Wenig später braust eine derart starke Bö heran, dass die leichten Stühle und Tische, wie von Geisterhand berührt, ein paar Meter Richtung Ku’damm-Trottoir geschoben werden, ohne umzukippen. In dieser Sekunde habe ich die deutliche Empfindung, dass mir dieser Ort seltsam bekannt vorkommt. Nach und nach tritt aus der Erinnerung ein Gebäude hervor, das früher hier an Stelle dieses Neubaues stand. Es war ein heruntergekommener Altbau mit großen Wohnungen, die damals keiner wollte, deshalb waren sie erschwinglich. Das Haus lag, ebenso wie der Neubau jetzt, schräg zur Straße hin. Davor stand ein großer Baum mit einer Bank darunter. Der Baum steht noch. Inmitten der winzigen Grünanlage. Unten im Haus gab es ein Bestattungsinstitut und über der Eingangstür befand sich, glaube ich, ein fast mannshoher Adler mit ausgebreiteten Flügeln. In diesem Haus war der SDS, der legendäre Sozialistische Deutsche Studentenbund. Und nun fällt mir auch ein, irgendwann etwas von einer Gedenkplatte gehört zu haben, zur Erinnerung an das Attentat auf Rudi Dutschke. Elisabeth fragt das gerade vorbeikommende Wachtmeisterpärchen danach, die schütteln aber bedauernd die Köpfe und wissen von nichts. Schließlich finden wir die Tafel, quasi der Schussrichtung folgend, vorne am Kurfürstendamm, nahe der Haltestelle Joachim-Friedrich-Straße. Flankiert von zwei Pollern, die verhindern sollen, dass parkende Autos auf der Gedenkplatte stehen, befindet sie sich, eingelassen im Boden, strichlierend umrahmt von weißen Steinen. Darauf zu lesen steht: „Attentat auf Rudi Dutschke / 11. April 1968 / An den Spätfolgen der Schussverletzung starb Dutschke 1979.“ Darunter eine Art Fußnote: „Die Studentenbewegung verlor eine ihrer herausragendsten Persönlichkeiten.“
Es beginnt sacht zu regnen, erstaunlich tröpfelnd nur, angesichts des dramatischen Vorspiels. Wir begeben uns in die City-Station, eine Art alkoholfreiem Wirtshaus für Arme, das jeden Abend seine Pforten öffnet. Verschiedene Speisen und Getränke werden an der Theke zu relativ erschwinglichen Preisen ausgegeben. Kalten süßen Tee in Gläsern gibt es gratis. Wer will, kann auf Barhockern an der Theke sitzen, ansonsten stehen ausreichend viele und große Wirtshaustische bereit, alt und aus dunklem Holz, wie die klassischen Bugholzstühle. Hier triffen wir auf den Antiquarius, den Kirchenmaler Frédéric, den Krüppel, der aussieht wie Breuer und Michael heißt, den Schachspieler, sowie eine ältere Frau namens Sibyll. Man sitzt an einem Tisch am Fenster, alle haben ein Glas Tee. Wir erzählen die Geschichte der gesuchten und gefundenen Tafel. Der Antiquar bemerkt, er hätte sie uns jederzeit zeigen können. Der Schachspieler sagt mit überraschender Schärfe: „Bleibt mir nur weg mit den 68ern!“ Auf unsere fragenden Blicke hin erklärt er erbittert: „Die haben die deutsche Arbeiterschaft verraten und verkauft, auf allen Gebieten!“ Der Antiquar hustet und hat sich verschluckt; als er wieder sprechen kann, fragt er: „Wie meinst du das?“ Der Schachspieler blickt finster: „Sie wollten die Arbeiter befreien, haben ein besseres Leben versprochen, die wussten angeblich, was das Beste ist, was den Armen gebührt, dass die dreckigen Ecken und Hinterhäuser weg müssen, dass die Arbeitsplätze modernisiert werden müssen, dass man die Gewerkschaften bekämpfen muss und die ausländische Konkurrenz duldet. Und wie es dann soweit war, flog der Arbeiter auf die Straße, aber kein Mensch war mehr da! Was wurde nicht alles geredet, von Klassenkampf und Klassenbewusstsein, Solidarität zwischen Arbeitern, Lehrlingen und Studenten. Bis in die Betriebe sind sie gekommen, geliebt haben sie den Arbeiter!“ Michael wirft ein: „Geliebt haben sie die Arbeiter mit Sicherheit nicht, weil sie ja gar nicht wussten, was Arbeiter sind!“ Der Antiquar blickt schweigend in sein Teeglas. „Sie waren nur die Vertreter der Bourgeois, im Prinzip nur der Bourgeois! Aber es gab eine Arbeiterschaft, die hat sauber gearbeitet, war ehrenwert ...“, sagt der Schachspieler, „und dieses Proletariat wurde verraten und ausgerottet, Schuld daran waren die großen Studentenstrategen.“ Michael wendet ein: „Na ja, das stimmt vielleicht nicht so ganz, denn das fiel ja in eine Zeit, wo die Industriegesellschaft schon nicht mehr funktioniert hat, vieles ist kaputt gegangen, weil die Arbeitsbedingungen und Methoden sich verändert haben, so dass viele Arbeiter einfach plötzlich draußen waren: Die Industriegesellschaft war zu Ende, dadurch haben sie ihre Macht auch verloren.“ Der Antiquar fügt hinzu: „Das ist schon richtig, dass sie über die Arbeiter hinweggegangen ist, die Zeit: Und die Studentenbewegung war ja dann auch zusammengebrochen ...“ Der Schachspieler schiebt sein leeres Glas von sich und sagt: „Aber von denen sitzt keiner hier am Tisch! Und ich kenne auch keinen einzigen solchen Fall. Die Übriggebliebenen, das waren schon immer die Dummen ...“ Sibyll sagt, sich umblickend: „Hier kommen alle irgendwie aus der Arbeiterklasse.“
Frédéric, der ein scharfer, oft schweigender Beobachter ist, fragt Michael: „Sag mal, hast du mal irgend was gemacht oder gelernt?“ Der Gefragte erzählt in leicht ironischem Tonfall: „Ja, ich habe mal was gemacht, ich war öffentlicher Bediensteter.“ Der Antiquar gibt einen überraschten Laut von sich, und Michael fährt fort: „Bei der Senatsverwaltung für Finanzen ... aber ich bin seit über zehn Jahren raus. Das war nicht mein Traumberuf! Ich hatte mich da irreleiten lassen. Ich bin ja an sich, grob gesagt, Mathematiker. Ich war zuerst wissenschaftlicher Student ... also zuvor war der Werdegang so, ich ging in eine Sonderschule für Körperbehinderte, dann bin ich zum Regelgymnasium übergewechselt und war Klassenbester, kam gut voran. Und deshalb habe ich studiert, habe mich dabei aber übernommen, überfordert, nicht auf meine körperlichen Bedürfnisse – die ja andere sind – geachtet und auch das Materielle ... Ich war der einzige im ganzen Fachbereich, der aus ganz einfachen Verhältnissen entstammte. Mein Vater war Arbeiter, ein Siemensindianer. Ich wurde dann ganz unsicher, ob ich das Studium durchstehe und bin auf die Fachhochschule für Verwaltung übergewechselt. Ich dachte, weil die Finanzverwaltung was mit Zahlen zu tun hat, da wäre ich gut aufgehoben, meine Eltern waren auch dieser Meinung, aber denkste! Es war eine einzige Zumutung, in einer unsinnig aufgeblasenen und künstlich verkomplizierenden Behörde zu arbeiten. Ich fing an, gegen allerhand Regeln zu verstoßen, bis ich ein Disziplinarverfahren bekam und freiwillig ausgeschieden bin. Lieber habe ich Altersversorgung und Beamtenprivilegien sausen lassen, als mich da weiter rumzuquälen.“ Sibyll, die halbtags arbeitet, ruft aus: „Da kannst du uns ja bei Steuerfragen helfen!“ Michael schüttelt den Kopf: „Ich bin viel zu lange raus, da ändert sich ständig was, bis kein Mensch mehr durchblickt.“ Frédéric fügt hinzu: „Oh, ich weiß, salemals, wo ich noch selbstständig war, hat’s nix wie Theater gegeben.“ Der Antiquar sagt: „In Amerika soll es für alle Bürger ein ganz einfaches, zweiseitiges Steuerformular geben, mehr nicht, das kann jedes Kind ausfüllen. Das müsste bei uns längst auch eingeführt werden!“ Michael lacht: „Das geht doch nicht! Nicht in Deutschland, nicht in Preußen, besser gesagt. Das erledigt ja einen ganzen Berufsstand!“
„So ist es doch mit allem“ sagt der Schachspieler, „der Staat sondert immer wieder Bereiche ab – das ist wie mit der Zellteilung – für die dann wieder eine Verwaltung her muss, Jobs, Pfründen und Privilegien entstehen, wo Gelder hingeleitet werden und ein Bedarf behauptet wird. Für das, was dem Bürger das Leben erfreulicher macht, ist immer weniger Geld da.“ Der Antiquar bemerkt: „Jeder soll jetzt für sich selbst verantwortlich sein, Ungleichheit schafft Konkurrenz ... Wisst ihr, wie viele Bismarckdenkmäler es gibt in Deutschland? Nein? Fünfhundert! Die müssen, finde ich, alle weg! Bismarck hat grade mal hundert Jahre vorgehalten. Jetzt ist es vorbei mit dem Sozialstaat.“ Sibyll ruft aus: „Dagegen muss man doch etwas tun, eine Initiative gründen, auf die Straße gehen!“ –„Das ist ja auch schon vorgekommen“, sagt Michael, „in Rom, zum Beispiel.“ Frédéric fügt hinzu: „Und in Frankreich auch, die Arbeitslosen.“ Der Antiquar sagt: „Mich wundert ja eins, die Schüler machen es, aber dass im Sozialamt mal die Leute Amok laufen, das kommt wohl nicht vor.“ Die Frau ruft: „Noch nicht!“ „Wenn die Politiker nicht dumm sind“, meint der Antiquar, „dann stopfen sie den Minderbemittelten das Maul mit einem Existenzminimum. Sonst kann ja jeder rechtsgerichtete Ideologe mit den Armen Politik machen.“ Der Schachspieler ist anderer Meinung: „Ich bin gegen Almosen, das ist entwürdigend. Wenn die Verhältnisse hart sind, muss sich auch die volle Härte zeigen, man soll die Leute doch in Ruhe lassen, damit sie, wenn es notwendig ist, auf der Straße unbelästigt krepieren können. Aber man stört sie mit Caritas und Pflegeschweinen.“ – „Das ist der real exerzierende Kapitalismus!“ ruft der Antiquar und lacht, erfreut über diesen schönen Versprecher. Aber der Schachspieler fährt ernst fort: „Im Seeling ist neuerdings die These vertreten worden, man müsse den Leidensdruck erhöhen. Es sei die Aufgabe des Sozialarbeiters, den Leidensdruck zu erhöhen, anscheinend soll das die Abwehrkraft stärken...“ – „Ja bestimmt!“ ruft Frédéric, wir sitzen noch nicht genug in der Scheiße!“ „Aber es heißt doch: ‚niedrigschwelliges Angebot‘, alles freiwillig, kein Druck oder Zwang!“ sagt der Antiquar mit vor Empörung bebender Stimme, „ich gehe ja kaum noch hin. Bollweber hat mal gesagt, wenn er da einen Nachmittag verbringt, dann hat er abends zu Hause keinerlei Lebensfreude mehr.“ Der Schachspieler nickt: „Das ist das generelle Problem. Alle reden von Hilfe. Aber es wird keinem geholfen. Das ist eine Sozialpädagogik, die auf Abhängigkeit aus ist, auf Sucht, eine Sadomaso-Pädagogik. Das sieht man schon an ihrer Hauptbeschäftigung, dem Füttern. So züchten sie ein Essverhalten, ein Lustverhalten heran, und die Leute müssen diese Wärmestubenfresskur machen, ob sie wollen oder nicht.“ – „Ich sag’s ja immer“, ruft Frédéric, „wir sind die menschlichen Schweineeimer!“ Michael lacht. Der Schachspieler fährt fast leise fort: „Die Leute werden immer schwergewichtiger, man will sie mit Schrippen an sich binden ...“ Der Antiquar wirft ein: „Suppenküchensyndrom!“ – „... und sie werden so schwergewichtig“, fährt der Schachspieler fort, „dass sie sich eines Tages allesamt nur noch auf Krücken fortbewegen können!“ Michael lacht animiert und leicht schadenfroh. Der Antiquar ruft aus: „So wie Bruno, der jedes Jahr ins Krankenhaus muss, zum Abspecken.“ – „Das ist ja auch ihr Liebling“, bemerkt der Schachspieler, „bei ihm ist der Leidensdruck erfolgreich erhöht worden.“
Sibyll seufzt und ruft erneut dazu auf, irgend etwas zu tun, um die Dinge zu ändern. Frédéric fragt ganz direkt: „Haben Sie schon einmal was geändert in ihrem Leben?!“ Sibyll ist einen Moment unsicher, überlegt und sagt: „Ja, ich glaube schon, beispielsweise haben wir – also eine Gruppe von Exilchilenen und anderen Leuten – uns für Ricardo Escobar Lagos eingesetzt. Er war ein Gegner der Diktatur, dann wurde er Erziehungsminister, und heute ist er Präsident ... und er ist ein sehr guter Präsident! Wenn jeder seine Ideen und Ideale noch hat, dann will er sich auch daran beteiligen, die Dinge zu ändern bei uns und kämpfen für mehr Menschenwürde. Für mich gehört dazu beispielsweise auch die medizinische Versorgung. Ich arbeite halbtags und bin allein erziehende Mutter, meine Zähne müssten dringend saniert werden, ich brauche Zahnersatz, den bezahlt mir aber meine Krankenkasse nicht, und mein Geld reicht kaum für das alltägliche Leben. Ich fühle mich sehr benachteiligt. Und da werde ich richtig böse, ich habe alleine vier Kinder großgezogen und mehrere tausend Liter Milch gegeben, die musste mein eigener Körper produzieren, das geht an die Substanz der Zähne und Knochen. Aber berücksichtigt wird es nicht! Das ist für mich auch eine Verletzung der Menschenwürde. Es heißt doch: Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Der Antiquar fügt hinzu: „Grundgesetz, Artikel eins. Und: Die Würde des Menschen ist antastbar, Ulrike Meinhof.“ Ich ergänze: „ ‚Untastbar‘, Hannelore Kohl.“ Elisabeth korrigiert: „Tastbar, hat sie gesagt, das war der Versprecher!“ Ich dementiere, doch sie beharrt auf „tastbar“. Der Antiquar ruft kichernd: „Wie eine Geschwulst!“ Sibyll sagt versonnen: „Ja, spürbar, fühlbar ...“
Frédéric, dem deutsche Wortspiele zu kompliziert sind, schweigt und genießt die Stimmung. Michael, der zu diesem Thema sicherlich einiges beitragen könnte, schweigt ebenso wie der Schachspieler, der, mit geschlossenen Augen aufrecht am Tisch sitzend, vollkommen abwesend wird. Auf die Frage, ob er müde sei, antwortet er, ohne die Augen zu öffnen: „Nicht denken, ich versuche es. Wenn ich wirke, wie einer der schläft, dann bin ich vielleicht grade am wachesten. Ich verschaffe mir die Freiheit, nicht dauernd zu denken, ich will zuhören, was vorbeikommt, ohne Meinung oder Zweifel oder Bewusstsein von mir. Aber jetzt ist es schon wieder vorbei, seit ich rede ... Da war doch dieser französische Philosoph, Descartes, der gesagt hat: Ich denke, also bin ich. Aber die Leute sind in vierhundert Jahren nicht wirklich zu einem Ich gekommen, jetzt versuche ich mal das Gegenteil ... damit kann man wenigstens keinen Schaden anrichten!“ Der Antiquar ruft aus: „Der war doch in dauerndem Briefwechsel mit Elisabeth von der Pfalz, also nur wissenschaftlich!“, und Michael sagt: „Er war ein großer Mathematiker, unter anderem hat er die Methode der unbestimmten Koeffizienten erfunden ...“ – „Ach“, unterbricht der Antiquar, „ihr kennt doch die kartesianischen Teufel da, aus geblasenem Glas, innen hohl, die unter Druck im Wasserglas auf und abwirbeln?“ –„So wie ich“, sagt der Schachspieler, „unter Leidensdruck!“ Der Antiquar kichert und sagt: „Ja genau, du bist ein kartesianischer Teufel!“ Sibyll ruft: „Hauptsache, kein Pflegeteufel!“ Der Schachspieler lacht lange, laut und glucksend. Frédéric, der neben ihm sitzt, mag dieses aus der Tiefe hervorbrechende Lachen des Schachspielers. Auf einen schwerkranken, abgezehrten Menschen wirkt der bärenstarke, amüsierte Schachspieler wie ein Fels in der Brandung. Frédéric öffnet seine Blechschachtel, die mit dem Marlon-Brando-Porträt, legt eine Handvoll Cigarillos vor den Schachspieler auf den Tisch und sagt: „Jetzt fällt’s mir erst auf, dass du die ganze Zeit nichts zu rauchen hast.“ Der Schachspieler zündet sich dankend einen an, und der Antiquarius benutzt die Pause, um seine Bankformulare mit Spickzettelfunktion hervorzuholen, liest das erste und sagt: „Weißt du, wie man das Stottern wegbekommen kann? Mit einem Korken zwischen den Zähnen sprechen!“, er blättert um, „ach ja, und hier habe ich was für dich: Einmal hier, was über Canisius, du weißt doch, wo wir früher immer waren, bis sie zugemacht haben. Das war eine beschlossene Sache, die Wärmestuben für die Armen nicht weiterzuführen. Fürs Karitative fehlt ihnen das Geld, aber jetzt bauen sie für 12,5 Millionen Mark ihre abgebrannte Kirche wieder auf, samt Glockenturm und Gemeindehaus. Aber glaubt mal nicht, dass da für uns dann auch was vorgesehen ist – die meisten sind ja nicht mal Gemeindemitglieder, geschweige denn katholisch! Wer von den Kirchen mal zugemacht hat, der macht auch nicht mehr auf. Genauso die Südsternkirche, sie haben zwar gesagt, es ist vorübergehend, aber die waren froh, dass sie den ganzen Abschaum los waren, der da jeden Donnerstagmorgen reingeströmt ist ... Und dann das hier noch, guck mal auf Seite fünf.“ Er reicht mir eine kleine Zeitung, Die Mahnung, herausgegeben vom Bund der Verfolgten des Naziregimes. Auf Seite fünf findet sich eine Buchbesprechung: „Heimat, deine Sterne ... Leben und Sterben des Erich Knauf“. Der Antiquar sprudelt hervor: „Das ist nicht nur der Autor von dem Lied aus ,Quax der Bruchpilot‘, der hat auch den Kapp-Putsch-Roman ,Ça ira‘ geschrieben. Ich habe da selber mal etwas nachgeforscht, die Witwe lebt ja noch, hier in Berlin ...“ Der Antiquar spürt, dass die anderen, nach anfänglicher Belustigung über die Zettelwirtschaft, sich beginnen zu langweilen, also verstummt er. In die Stille hinein krachen am Nebentisch Würfelbecher und Würfel aufs Holz.
Man beschließt zu essen. Einige Zeit später bringt uns eine der ehrenamtlichen Helferinnen ausnahmsweise sogar die vollen Teller an den Tisch. Es gibt Bratkartoffeln mit Spinat und Rührei, kantinenartig zubereitet. „Das sind immer noch die Eier von Ostern! Ich hab selber zu Hause noch sechs Kartons eingekühlt, die wir salemals in Spandau gekiregt haben“, sagt Frédéric und stochert vorsichtig. Das Misstrauen legt sich aber bald. Nachdem alle eine Weile schweigend gegessen haben, sagt Sibyll plötzlich: „Also mir lässt das keine Ruhe, ich überlege schon die ganze Zeit, wie könnte das denn aussehen, ein Symbol für die Armut?“ Alle sind für einen Moment perplex, dann sagt Michael tastend: „Du meinst so etwas wie den christlichen Fisch, der war ja ein Geheimsymbol...“ – „Eine Fischgräte!“ ruft Frédéric, wird aber belehrt, dass es die bereits als „Fishbone“-Markenlego einer Textilfirma gibt. Elisabeth, die in solchen Momenten gerne nach Stift und Zettel greift, zeichnet einen Fischkopf, mit Zähnen und grimmigem Blick, der Rest ist Gräte und Schwanz, unter ihm entsteht eine Bratpfanne. „Der ist nicht in der Pfanne“, sagt Michael, „dabei hat man ihn doch in die Pfanne gehauen. Der aber ist in der Schwebe, immer in der Schwebe.“ – „Vor allem ist unklar“, bemerkt Sibyll, „wer das Fehlende gegessen hat?!“ Kichernd ruft der Antiquar: „Der sieht aus, wie der Raubtierkapitalismus, man kriegt ja eine Gänsehaut.“ Inzwischen hat Elisabeth unter die Pfanne eine altmodische Bombe mit glimmernder Lunte gezeichnet. Sibyll sagt entschieden: „Gewalt soll nicht dabei sein, auch nicht bei dem Symbol, finde ich.“ – „Das können wir ja erst mal offen lassen“, meint Frédéric, der die Dinge gerne strategisch angeht, „also, ich wüsste nicht, was man da für ein Symbol wählen könnte.“
Alle überlegen, jemand erwähnt die Schleife für die Aids-Hilfe, die inzwischen jedermann kennt. Der Antiquar bekommt, durch ein geheimnisvolles Zusammenspiel kleinster Muskeln, sein allseits bekanntes Fuchsgesicht und sagt: „Wie wäre es denn mit einem Hungertuch, das könnte man als Einstecktüchlein tragen oder hinten, halb in der Tasche, so wie die amerikanischen Schwulen?“ Der Schachspieler öffnet die Augen. Frédéric verkündet: „Er denkt wieder!“, und Sibyll sagt: „Das ist gar nicht so schlecht, ein durchlöcherter Lumpen.“ – „Symbol fürs Lumpenproletariat!“ ruft Michael animiert. Ich bemerke, dass ich schon eine ganze Weile auf die Innenseite seiner Unterarme schaue, und weiß plötzlich, was diese dunklen verdickten, verhornten Stellen zu bedeuten haben. Es sind Schwielen, vom Gebrauch der Krücken, er hat sie auch in den Handflächen, und sie sind von hufartiger Substanz. Der Schachspieler reißt mich aus dieser Betrachtung, ruhig sagt er: „Es ist ausgestorben, das Lumpenproletariat!“ – „Darum gibt’s auch keine Lumpen mehr“, spielt Michael mit dem Gegenstand weiter, „höchstens Haderlumpen ...“ Sibyll ist etwas gekränkt, weil all ihre besorgten Vorschläge im Handumdrehen jonglierend davongetragen werden, und Frédéric fragt: „Was soll denn jetzt das sein, ein Sowiesolump?“ Elisabeth erklärt: „Ich glaube, das ist Österreichisch, es ist an sich ein liebevolles Schimpfwort, gemeint ist einer, der noch schlimmer ist als ein Lumpen, nämlich ein weggeworfener Lumpen, der zerfetzt wird für die Papierverarbeitung. Hadernhaltiges Büttenpapier, das ist ganz was Feines!“ Alle lachen. Sibyll macht noch einmal einen letzten Anlauf zur Klärung ihrer Überlegungen: „Gut, also lassen wir einfach das Symbol erst mal beiseite, anscheinend will sich keines so richtig eignen. Aber die Hauptfrage: Wie könnte man nun wirklich die Armut und den spezifischen Nachteil der Armut definieren?“ Michael sagt ohne zu zögern: „Arm ist derjenige, der seiner Möglichkeiten beraubt wird!“ Der Schachspieler verkündet: „Wer nicht in Freiheit leben und krepieren kann, der ist arm! Wer alt und krank ist und von Pflegeteufeln misshandelt wird, der ist arm!“ Frédéric lächelt matt und macht eine vage Geste in die Runde: „Arm sind wir alle.“ Der Antiquar zitiert salbungsvoll: „Armut ist ein großer Glanz von innen.“ Sibyll gibt nicht auf: „Also arm ist man, wenn man sich keinen Zahnersatz leisten kann, wenn man nicht am kulturellen Leben teilnehmen kann, weil das Geld kaum für den Alltag reicht; wenn man keine Freunde mehr hat; wenn man in ständiger Angst und Sorge lebt vor dem nächsten Tag und der Zukunft, bedrückt ist, ohne Freude oder Vorfreude auf was Schönes, Besonderes. Die Armut zwingt zu einer pessimistischen Lebenseinstellung, zum Verlust des Selbstbewusstseins, man verblödet regelrecht. Und wisst ihr, woran ich einen Armen von weitem schon erkenne, auch wenn er noch so gut angezogen geht? An seiner Körperhaltung und seinem Gang. Da ist immer irgendwie was Schleppendes, Gebeugtes.“ – „Besonders bei mir“, sagt Michael ironisch. Man lacht erleichtert. Es ist Zeit zum Aufbruch.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen