piwik no script img

Der Gang der Versöhnung

Auf ihren Transparenten steht „Sorry“, ihre Luftballons tragen die Farben der Aborigines. Hunderttausende marschieren – und ihr Premier sitzt zu Hause

aus Sydney SVEN HANSEN

Dreißig weiße Golfcarts setzen sich in Bewegung. Auf ihnen sitzen in warme Jacken gehüllt die Stammesältesten der Aborigines. Es ist bitterkalt. Sonntagmorgen, kurz nach acht Uhr. Auf dem „alten Kleiderbügel“, wie die Stahlbrücke am Hafen von Sydney genannt wird, wehen die blaue australische Flagge und die schwarzrote Fahne mit der gelben Sonne der Aborigines in seltener Eintracht. Darüber kreisen Hubschrauber.

Hinter den Stammesältesten setzt ein friedlicher bunter Menschenstrom ein, der bis zum frühen Nachmittag nicht mehr aufhören will. Um Chaos beim so genannten „Versöhnungsgang“ zu verhindern, war um telefonische Anmeldung gebeten worden.

Die wohl größte Demonstration in der Geschichte des Landes

Hunderttausend Menschen hatte man erwartet, doch es kommen immer mehr. Die Polizei spricht von 150.000, die Organisatoren schätzen eine Viertel Million. Es ist die größte Demonstration in Australien seit dem Vietnamkrieg, wenn nicht gar die größte in der Geschichte des Landes.

Die Demonstranten tragen Luftballons in Schwarz, Gelb und Rot, den Farben der Aborigines, und Transparente mit Aufschriften wie „Sorry“, „Gerechtigkeit“, „Gemeinsam vorwärts“ oder „Wir danken den Aborigines für ihre Toleranz und Geduld mit uns.“ Manche tragen Schilder, auf denen einfach nur „St. Joseph Grundschule“, „Buddhist Peace Fellowship“, „Jüdische Gemeinde“ oder „Darlington“, der Name eines Stadtteils steht. Gegen 11 Uhr malt ein Sportflugzeug ein großes weißes „Sorry“ in den blauen Himmel über der Stadt. Eine falsche Queen jubelt den Menschen zu, eine Brass Band in Militäruniform bringt eine Gruppe schwarzrotgelb gekleideter Aborigines-Aktivisten zum Schunkeln. Yuppies und Kinder haben ihre klappbaren Miniroller aus Edelstahl dabei, die hier der letzte Schrei sind. An der Mautstation am Südende der Brücke verkündet eine Anzeigetafel, die sonst Verkehrshinweise gibt: „Ihr habt es geschafft.“ Doch die meisten ziehen weiter zum Darling Harbour. In dem zum Vergnügungspark umgebauten Hafen gibt es auf drei Bühnen bis zum Nachmittag Openairkonzerte.

Viele Marschierer haben Aufkleber in Form einer roten oder blauen Hand auf der Brust. „Australien braucht einen Vertrag“ steht darauf. Im Unterschied zu anderen Kolonien hatten die Briten Australien ohne jegliches formales Abkommen mit den Ureinwohnern in Besitz genommen. Heute sehen viele einen Vertrag, der die Rechte der Aborigines und das ihnen zugefügte Leid anerkennt, als entscheidenden Schritt zur Versöhnung an. „In diesem Land gibt es zwei Sorten von Menschen. Die können nur durch einen Vertrag vereint werden“, sagt Geoff Clark. Er ist Vorsitzender der Kommission für Aborigines (Atsic), einer staatlichen Behörde, deren Führer von den Ureinwohnern direkt gewählt werden. Zugleich ist Geoff Clark Mitglied im Versöhnungsrat, der den Gang über die Brücke organisierte – und im Auftrag des Parlaments an Dokumenten arbeitete, die die Aussöhnung zwischen weißen Australiern und Ureinwohnern vorantreiben sollen.

Am Samstag war es so weit. Der Rat, paritätisch besetzt mit Vertretern der Aborigines und aller Parteien, hat seine Arbeit beendet, die Versöhnungsdokumente feierlich in Sydneys berühmtem Opernhaus der Regierung vorgelegt. Nun hat es Australiens konservative Regierung unter John Howard schriftlich: Einen Vertrag zwischen Weißen und Aborigines hat es nie gegeben, die Aborigines sind die ursprünglichen Eigentümer des Landes, das Erbe der Aborigines muss geschützt und ihre Stellung verbessert werden. Von der Forderung nach einem Vertrag ist nichts zu lesen.

Der Versöhnungsrat wurde vor neun Jahren gegründet, um rechtzeitig vor Australiens hundertstem Geburtstag zum Beginn des Jahres 2001 das Verhältnis zwischen den Ureinwohnern und dem Rest der Bevölkerung auf eine neue Grundlage zu stellen.

Die Landgesetze wurden geändert – zum Nachteil der Ureinwohner

Doch die seit 1996 amtierende konservative Regierung hat die Landgesetze bereits wieder zu Ungunsten der Ureinwohner geändert, nachdem deren traditionelle Rechte erstmals 1992 gerichtlich anerkannt worden waren. Das hat viele Aborigines und ihre Unterstützer verbittert. Sie trauen deshalb auch dem Bekenntnis der Regierung zur Versöhnung nicht mehr. So bezeichnete der frühere Vorsitzende des Versöhnungsrates, Patrick Dodson, die Politik von Premierminister John Howard als „Rezept für ein Desaster“. Dodson zog sich frustriert aus der von einer Zeitung als „Sorry Business“ titulierten Versöhnungspolitik zurück.

Dabei sind die Versöhnungserklärung und der Strategieplan für die Zukunft, die da in dem cremefarben glänzenden Opernhaus am Hafen dem Premier überreicht wurden, bereits ein Kompromiss. Doch selbst das ging John Howard zu weit. Er legte eine eigene Versöhnungserklärung vor. Und die erkennt die traditionellen Landrechte der Aborigines nicht an, sondern betont, dass es nur ein Recht für alle Australier geben könne. Damit will er möglichen Land- und Kompensationsforderungen der Aborigines vorbeugen. Auch lehnt Howard eine Entschuldigung im Namen der Regierung ab – schließlich könne er sich nicht für das von früheren Regierungen begangene Unrecht entschuldigen. Auch in Downunder zählt die Gnade der späten Geburt.

Mit dieser Politik unterscheidet sich Howard von vielen Regierungschefs der australischen Bundesstaaten und provoziert die Aborigines, die Wert auf eine symbolische Geste legen. Doch Howard zeigt damit auch, wie in Australiens konservativen Kreisen gedacht wird.

„Selbst wenn wir die Wahrheiten in eine ferne Vergangenheit schieben, selbst wenn wir die Aborigines aus unserer Geschichte tilgen, wie wir sie vor 100 Jahren aus unserer Verfassung ausgeschlossen haben, können wir die Fehler unserer eigenen Generation nicht verneinen“, sagte am Samstag Bob Carr, der Gouverneur des Bundesstaates New South Wales, zu dem Sydney gehört.

Der Premier erntet Pfiffe, das Publikum fordert: „Say Sorry!“

Der Labour-Politiker Carr war nur einer von vielen Rednern, die von Howard bei der Zeremonie zur Übergabe der Versöhnungserklärung eine offizielle Entschuldigung forderten. „Ein kleiner Schritt für Sie, Premierminister, kann ein großer Schritt vorwärts für die Nation sein. Dieser Moment kann der Wendepunkt in der Geschichte sein“, sagte Geoff Clark. Doch Howard scheint politische Symbolik nicht zu verstehen – oder verstehen zu wollen.

Die 2.000 Gäste im ausverkauften Opernhaus, die bis zu 300 Mark für die Teilnahme an der unter anderem von einem japanischen Autokonzern gesponserten offiziellen Versöhnungsveranstaltung gezahlt hatten, dankten es dem Premier auf ihre Weise. Als Howard sprach, stand fast die gesamte obere Hälfte des Publikums auf und drehte ihm demonstrativ den Rücken zu. Anders als in früheren Fällen ließ sich der Premier darauf allerdings nicht zu unbedachten Äußerungen hinreißen. Vielmehr hielt er strikt an seinem Redetext fest. Auch als viele „Say Sorry!“ riefen, ließ er sich nicht aus der Ruhe bringen. Howard räumte zwar ein, dass die Aborigines die am meisten benachteiligte Gruppe in der australischen Gesellschaft sind, sprach von Tragödien, Trauer, Schmerz, Verletzungen und Grausamkeiten der Vergangenheit. Aber das Wort „sorry“ kam ihm nicht über die Lippen.

Dafür erntete der Premier Pfiffe, als er wie alle anderen Politiker seinen schwarzen Handabdruck, das meistverwandte Symbol der Aborigines, unter die Versöhnungserklärung setzte. Generalgouverneur Sir William Deane hingegen, der die britische Queen als australisches Staatsoberhaupt vertrat, bekam stehende Ovationen. Er legte in seiner Abschlusserklärung eine Schweigeminute für die Opfer des Unrechts an den Aborigines ein.

Angesichts der wachsenden Kritik, er als Premier behindere die Versöhnung, hatte Howard in den vergangenen Tagen seine Rolle herunterzuspielen versucht. „Versöhnung ist hauptsächlich eine Volksbewegung. Sie kann nicht aus dem politischen Himmel verordnet werden, sondern muss unter den Menschen stattfinden, in ihren Herzen und Köpfen“, sagte er. Der gestrige Versöhnungsgang, an dem Howard nicht teilnehmen wollte und zu dem er nur die zwei zuständigen Minister schickte, war genau das: eine Volksbewegung. Und die zeigte deutlich, dass sie Howard bereits weit hinter sich gelassen hat.

„Die Aborigines werden nicht aufgeben. Eine Entschuldigung ist weiter nötig, weil die Menschen verletzt sind“, sagt Aden Ridgeway. Er ist der einzige Aborigine im australischen Senat. „Es gibt noch so viel zu tun. Versöhnung erfolgt nicht allein an diesem Wochenende.“ Während er das sagt, fährt ein überfüllter doppelstöckiger Nahverkehrszug vom Süden über die Brücke und bringt weitere Demonstranten auf die Nordseite, von wo aus sie ihren hier bereits als historisch bezeichneten Versöhnungsgang beginnen. Ein Demonstrant sagt nur ganz lapidar: „John Howard sitzt jetzt als Einziger zu Haus.“

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen