: Nach dem Katechismus
Am Montag beginnt in New York eine UN-Sondergeneralversammlung zum Thema „Frauen 2000“. Fünf Jahre nach der 4. Weltfrauenkonferenz in Peking ist es Zeit für eine Zwischenbilanz. Welche Maßgaben der damaligen Aktionsplattform haben die beteiligten Regierungen umgesetzt?
von CHRISTA WICHTERICH
„Nehmt Peking mit nach Hause“, stand vor fünf Jahren auf Postern in der chinesischen Hauptstadt. Peking 95, war da was? Richtig, die 4. Weltfrauenkonferenz der Vereinten Nationen und das Globale Forum der Nicht-Regierungsorganisationen (NRO). Bei vielen ist das größte Frauentreffen im „Jahrhundert der Emanzipation“ längst durch das Sieb der Erinnerung gefallen. Die, die in Peking waren, haben es dagegen als frauengeschichtliches Denkmal auf ein rosarotes Wölkchen gehoben.
Bei der Rückreise hatten RegierungsvertreterInnen und Frauenorganisationen einen neuen Katechismus der Geschlechtergleichheit im Gepäck: die „Aktionsplattform“. Die 187 Unterzeichnerstaaten würdigten das voluminöse Abschlussdokument als umfassendstes Regierungsbekenntnis zu Frauenrechten und geschlechterpolitisches Rezeptbuch für die Zukunft. Die NROs jubelten, nie zuvor hätte ein UN-amtliches Papier so deutlich ihre Handschrift getragen. Durch Lobbying hatten sie Themen und Forderungen aus den Frauenbewegungen einfädeln können, gar die Sprache „revolutioniert“.
Und heute? Ein erstes Fazit liegt auf der Hand: Der Revolution der Worte folgte keine der Taten. Zwischen Rhetorik und Alltag, zwischen Rechten und Realität klaffen Welten. Nehmen wir den Bereich politischer Partizipation und Zugang von Frauen zu Entscheidungspositionen. Viele Regierungen behaupten, diese Frage habe ihnen besonders am Herzen gelegen. Lapidar resümieren die UN: „Angesichts der Statistiken kann man nur von einer symbolischen Verbesserung reden.“
Weltweit stagniert seit Peking der Anteil der Frauen an politischen und wirtschaftlichen Führungspositionen. In den Parlamenten sitzen jetzt 12,7 Prozent Frauen: ein Anstieg um anderthalb Punkte. Spitzenreiter ist Skandinavien mit knapp vierzig Prozent, Schlusslichter sind die arabischen Staaten mit gut drei Prozent. Die Einführung westlicher Demokratiemodelle in Osteuropa hat keineswegs zu gleicher Repräsentation von Frauen und Männern in der Politik geführt. Im Gegenteil: Nach der Abwicklung von reservierten Sitzen für Frauen konnten Parteien und Parlamente sich weitgehend als männliche Biotope etablieren.
Die Aufforderung der Aktionsplattform an Regierungen, Parteien, Gewerkschaften und die Privatwirtschaft, durch Fördermaßnahmen für „eine kritische Masse von Frauen in strategischen Leitungspositionen“ zu sorgen – nämlich für ein Drittel der Posten –, scheint vergessen. Ganz wenige Regierungen – wie Indien auf kommunaler Ebene – wagten es, Quoten ein- und durchzusetzen. In Deutschland erleben wir gerade, wie die Privatwirtschaft sich mit Händen und Füßen gegen ein Gleichstellungsgesetz wehrt.
Überhaupt hat in den vergangenen Jahren der Markt mehr Veränderungen in Frauenleben ausgelöst als die Politik. So bilanziert die indische Ökonomin Jayati Gosh: „Trotz einzelner politischer Ansätze und Gesetzesreformen hat sich in den Entwicklungsländern weder die Gesamtsituation von Frauen verbessert noch sind Geschlechterunterschiede merklich geschrumpft. Im Gegenteil: Neueste Einflüsse der Globalisierung drehen einige mühsam erreichte Fortschritte wieder zurück.“
Die Globalisierung hat sich nach der Peking-Konferenz als höchst krisenanfälliger Prozess erwiesen. Als Folge der Asien-, Russland- und Brasilienkrise ist die absolute Zahl der Armen gewachsen und die Feminisierung der Armut hält weltweit an. Die Politik konnte diesen Trends nicht entgegenwirken. Dies gilt besonders für Afrika, wo Strukturanpassungsprogramme zum Abbau der Staatsausgaben im sozialen Sektor geführt haben. In ländlichen Regionen Afrikas haben Mädchen heute schlechtere Chancen, Grundschulbildung zu erhalten, als ihre Mütter. Dort nehmen auch Mütter- und Kindersterblichkeit, Mangelernährung und HIV-Infektionen von Frauen zu.
Immerhin sind im letzten Jahrzehnt mehr Frauen ins mittlere Management und in die neuen Informationstechnologien vorgestoßen. Unter den Computerfachleuten, die einen Antrag auf eine Green Card in Deutschland gestellt haben, sind dreißig Prozent Informatikerinnen aus Bulgarien und Indien. Doch die meisten erwerbstätigen Frauen finden sich in „flexiblen“ Jobs wieder, in Teilzeit-, Saison- und Heimarbeit oder im informellen Sektor, als Straßenhändlerin, Hausangestellte oder Prostituierte, schlecht bezahlt, niedrig bewertet und ohne soziale Sicherung.
Flexibilisierung der Arbeit durch Frauenbeschäftigung bezeichnen die UN als derzeitig bedeutendsten Trend in der Arbeitswelt. „Die Asienkrise hat wie eine riesige Flexibilisierungsmaschine gewirkt“, sagt Chol Soon Rhie, Vorsitzende des Dachverbands Koreanischer Arbeiterinnenvereinigungen. „Zuerst Massenentlassungen, dann Umwandlung der Vollbeschäftigung in Banken, Versicherungen und Kleinunternehmen in flexible Beschäftigung. Ergebnis: Achtzig Prozent der Teilzeitarbeitenden sind Frauen, deren Stundenlöhne ein Drittel niedriger sind als ihre früheren Tariflöhne“.
Unter den Bedingungen eines hohen Armutrisikos, verschärfter Konkurrenz und Ungeschütztheit auf den globalisierten Märkten ist die innere und äußere Bedrohung durch Gewalt gegen Frauen gewachsen. Gewalt in den Familien nimmt in vielen Regionen zu. Mehr Kriege werden geführt, in denen Zivilistinnen gezielt angegriffen werden und Vergewaltigung systematisch als Kriegsstrategie benutzt wird. Bitter stellt der europäische Hochkommissar für Menschenrechte fest, dass „fünf Jahre nach Peking mehr Frauen und Kinder gehandelt werden als je zuvor“.
Dies alles geschieht, obwohl die Aktionsplattform von Peking jedwede Form von Gewalt gegen Frauen als Menschenrechtsverletzung verurteilte und nach der Konferenz Staaten wie China, Vietnam, Thailand und Südafrika Rechtsreformen durchführten, die Frauen vor Gewalt in der Familie und Frauenhandel schützen sollen. Politische Maßnahmen zur Umsetzung der Gesetze bleiben jedoch oft halbherzig und unterfinanziert. Nicht selten auch siegen die Marktkräfte oder die transnational organisierte Kriminalität.
„Umsetzung“ ist zum Schlüsselwort des gesamten Bilanzprozesses geworden. Die Erklärung von Rechten und Programmen macht noch keine Geschlechtergleichheit. Sie ist nur der erste Schritt – und selbst den tun viele Regierungen keineswegs flott. Einige Regierungen, die sich in Peking mit Versprechungen weit aus dem Fenster hängten, litten zu Hause an politischem Alzheimer. Andere hatten alle Mühe, die Zusagen in die Praxis umzusetzen. So zauberte die Bundesregierung in Peking vierzig Millionen Dollar für Rechts- und Sozialberatung für Frauen aus dem Entwicklungshilfetopf. Danach aber hatte das Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung seine liebe Not, diese Programme in Ländern des Südens umzusetzen. Die UNO selbst gelobte, dass im Jahr 2000 Frauen die Hälfte der politischen Entscheidungspositionen im UN-Betrieb besetzen sollten. Sie schaffte nur einen Anstieg von damals mickrigen 17,5 auf 30 Prozent.
Insgesamt identifizieren die Regierungen in ihren Berichten an die UN drei Haupthindernisse für Geschlechterpolitik: diskriminierende Einstellungen, ökonomische Veränderungen und kriegerische Konflikte – alle drei weitgehend jenseits ihrer Verantwortung. Das sehen die Frauenorganisationen anders: Mangelnde Anstrengung ist ihrer Einschätzung nach oft der Hauptgrund für die geringe Durchsetzungskraft der Politik.
Zwar nahmen einige wenige Staaten wie Südafrika, Chile, Südkorea, die Schweiz und Kanada viele Impulse von Peking auf. Die meisten Staaten haben jedoch nur auf Druck der NRO die Ärmel ein Stück hochgekrempelt. Und wieder andere bewiesen patriarchales Sitzfleisch oder vernachlässigten Frauenrechte, um die Familie zu schützen.
„In New York müssen wir die Batterien der Regierungen neu aufladen“, hofft Sarah Longwe, Entwicklungs- und Gender-Expertin aus Sambia, mit Blick auf die UN-Sondergeneralversammlung der nächsten Woche. Die soll ein neues Dokument verabschieden, um den Regierungen aufzuhelfen. Anspruch ist, die Beschlüsse von Peking zu bekräftigen und auf Grundlage der Bilanz neue politische Handlungsstrategien und konkrete Initiativen anzustoßen.
Doch das Stimmungsbarometer ist im Keller. Die Verhandlungen treten seit Monaten auf der Stelle, die Regierungsdelegationen können sich nicht einigen. Die EU-Staatengruppe macht sich für Frauenrechte und verantwortliches Regieren stark. Für die „Gruppe 77“, in der sich inzwischen 133 völlig unterschiedlich entwickelte Länder des Südens befinden, stehen Entwicklung und Finanzen oben auf der Prioritätenliste, während sie in Bezug auf Frauenrechte völlig gegensätzliche Positionen vertreten. Der Vatikan unterstützt die „Gruppe 77“ in ihrem Kampf gegen Armut und weltwirtschaftliche Ungleichheit, versucht aber gleichzeitig mit erzkonservativen christlichen und islamistischen Regierungen die Rechte von Frauen auf Selbstbestimmung im Namen von Familie, Mutterschaft und Menschenwürde zu torpedieren. Dass bisher nur ein Entwurf herausgekommen ist, der vage und weniger handlungsorientiert ist als die Aktionsplattform von Peking, verwundert nicht.
Frauen-NROs eilen nach New York und versuchen zu retten, was noch zu retten ist, damit Frauenrechte nicht zum Spielball im Regierungszirkus werden. „Wir waren in Peking erfolgreich“, macht das Süd-Frauen-Netzwerk DAWN sich Mut, „und wir können in New York auch wieder erfolgreich sein.“
CHRISTA WICHTERICH lebt als freie Autorin und Beraterin von Entwicklungsprojekten in Bonn. Für die taz wird sie aktuell von der New Yorker Generalversammlung berichten
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