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Carmen soll leben!

Wie aus Georges Bizets Oper eine lukrative Touristenattraktion zusammengeschustert wird: Carmen 2000 bei Hagenbeck  ■ Von Dagmar Penzlin

Die Stiere bekommen wir nicht zu sehen. „Der Untergrund ist noch nicht genügend befestigt“, erklärt Regisseur Michael Temme durchs Mikrofon. So toben die, die sonst mit den Stieren tanzen, allein durch die kleine umgitterte Arena: Während einer Stier spielt, weicht ein anderer möglichst akrobatisch aus. Das muss jetzt sein, denn die übrigen Darsteller ziehen sich derweil für den vierten Akt um.

Eine Probe ist keine Aufführung. Und selbst bei einer Generalprobe darf nicht alles klappen, so will es der Aberglaube der Theaterleute. Einige Unsicherheiten zu viel wies am Sonnabend allerdings die Generalprobe von Carmen 2000 auf, zu der die Presse geladen war. Auch wenn Dirigent Cord Garben mit seinem Salonorchester und einer passablen Sängerriege ganz überzeugend musizierte, verhärtete sich der Eindruck, dass hier – schnell, schnell – aus der Oper von Georges Bizet eine Touristenattraktion in Hagenbecks Tierpark zusammengeschustert wurde. Denn die EXPO in Hannover ist nicht weit und mit leicht verdaulich angerichteter Kultur lässt sich Geld machen. Gestern stand die offizielle Weltpremiere von Carmen 2000 an. Am Tag der Generalprobe liefen die Vorbereitungen rund um das Spektakel noch auf Hochtouren.

Der Maler taucht seinen Pinsel in die rosarote Farbe, streicht ihn ab und tüncht die Sperrholzumrandung des Getränkestandes. Überall bohren und hämmern die Handwerker, während junge Frauen Sektgläser auspacken. Über eine Absperrung aus rotweißem Plastikband gelangen wir zu unseren Klappstühlen. Carmen 2000 spielt in einem Zirkuszelt. Um dafür Platz zu haben, legte der Tierpark sogar den See im Flamingo-Gehege trocken.

Eine bunt gemischte Gruppe aus Tänzern und Akrobaten tummelt sich zu Beginn etwas unmotiviert in der Manege und versucht für Zirkusatmosphäre zu sorgen, bis ein kleinwüchsiger Clown mit weißem Pierrot-Gesicht das Spiel in die Hand nimmt: Er führt die Figuren herein, er reicht ihnen Requisiten und greift auch ins Geschehen ein. Carmen 2000 beschränkt sich nur auf die Musiknummern aus Bizets Werk. Dialoge oder Rezitative gibt es nicht. Alles ist Highlight, alles Show.

Luretta Bybee als Carmen wallt herein, wirft ihre schwarze Mähne zurück und beginnt die Habanera. Ihre füllige Oberweite quillt in der weißen Bluse noch mehr über die schwarze Korsage, als sie sich schließlich zu Don José beugt, um ihm die verhängnisvolle rote Rose zu reichen. Carmen 2000-Regisseur Michael Temme reduziert seine Titelfigur vollkommen auf das Klischee vom triebhaften, amoralischen Weib, ungeachtet neuerer Interpretationsansätze wie etwa dem von Egon Voss. Temmes Carmen wiegt sich aufreizend in den Hüften wie eine Table-Dance-Angestellte auf dem Kiez, und beim Treffen mit Don José am Ende des zweiten Aktes reißt sie ihm die Klamotten von Leib.

Die anderen Elemente der Inszenierung versprühen nicht weniger den müden Charme des allzu Gewohnten und Abgegriffenen. Wie etwa die Tanzgruppe, die mit präzisen Schritten und changierenden Taftkleidern das Flair spanischer Folklore verbreiten soll. Da springt Regissuer Temme auf, bricht die Aufführung der Tänzer ab. Er ist aufgebracht – die Handwerker: „Bitte endlich eine Probe ohne Lärmbelästigung.“ Die Nerven liegen bloß.

Jetzt neigt sich die Generalprobe dem Ende entgegen. Carmen und Don José liefern sich ihren Show-down. Bei Bizet ersticht der Sergeant die Zigeunerin. Hier im Zirkuszelt reicht der Clown ihm zwar das Messer, verhindert dann aber den Mord. Während Don José traurig auf dem Boden kauert und sich das Gesicht ebenfalls weiß schminkt, spielt der Pierrot Carmens Motiv auf der Geige. Der dramatische Schluss des Originals muss abgerundet werden, zahnlos und blutleer sein wie der Rest. Ein familienfreundliches Produkt eben, das auch für die Kleinsten konsumierbar ist.

Der Applausverordnung am Schluss fehlt noch der letzte Schliff. Während die Ouvertüre wieder und wieder laut vom Band plärrt, ziehen die Mitwirkenden in der Manege ihre Runden: die Kinder winken eifrig, die Männer ziehen ihren Hut und die Frauen heben huldvoll die Hand zum Abschiedsgruß. Verbeugung zu allen Seiten. Dann schwungvoller Abgang. „Munterer“, befiehlt Regisseur Temme seinen Darstellern durchs Mikrofon – aus theatralem Fast Food Funken zu schlagen ist ein hartes Geschäft.

Noch bis 1. Oktober, täglich außer montags, jeweils 19.30 Uhr, Hagenbecks Tierpark

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