: Jonglage für die Götter auf geweihten Tempelplätzen
Historischer Countdown zur Fußball-EM (Teil 2): Kemari, die Fußballzeremonie im alten Japan, wurde in Seidenkimonos und Holzsandalen betrieben
„Modern ist, wenn man gewinnt.“ (Horst Hrubesch)
Viele Elemente japanischer Kultur stammen ursprünglich aus China: der Buddhismus, ein Teil der Schriftzeichen und die Legende der drei Affenwesen mit menschlichen Gesichtern. Der Legende nach waren sie es, die das Fußballspiel, das man Ke-Mari („Kick-Ball“) nannte, um das Jahr 600 nach Japan brachten.
In den ersten Jahrhunderten seiner Verbreitung wurde Kemari als Kampf zweier Mannschaften auf einem Spielfeld mit Torpfosten betrieben und war damit dem heutigen Fußball recht ähnlich. Aber nicht sportlicher Ehrgeiz war es, der die Japaner in der Zeit des europäischen Mittelalters bewegte, Fußball zu spielen, sondern religiöses Ritual.
Bis heute liegen die Spielplätze innerhalb eines Tempelbezirks. Immer trachtete man danach, im Rahmen einer größeren Zeremonie das Wohlwollen der Götter zu erlangen. Mit den Änderungen der religiösen Rituale erfuhr auch das Kemari eine Veränderung. Seine heute noch am Schrein von Kioto zu bewundernde Form erhielt es in der Blütezeit japanischer Wirtschaft und Kultur: der Edo-Zeit (1603–1867). Die bekannten Holzschnitte mit Namen Ukiyo-E legen ein farbenprächtiges Zeugnis der Zeremonie ab, mit dem das Kemari an den Ritterhöfen der Shogune Altjapans verbunden war.
Häufig mit Hüten bekleidet, standen sich in einem Kreis männliche und weibliche Höflinge gegenüber, die kostbare Seidenkimonos und Holzsandalen trugen. Mit diesem Sportdress sollte nicht allein das Wohlgefallen der Götter, sondern auch die soziale Achtung von Mitspielern und Zuschauern gewonnen werden. Kemari zählte zu den Tugenden der Adligen, die durch Kleidung und die Ästhetik der Ballbeherrschung eine gute Figur abzugeben versuchten.
Kemari wurde auf etwa 14 x 14 m großen und mit Bambusstangen markierten oder umgrenzten Sandplätzen gespielt. Oft waren in den Ecken der Plätze heilige Bäume gepflanzt: eine Kiefer im Nordwesten, eine Kirsche im Nordosten, eine Weide im Südosten und ein Ahorn im Südwesten. Das Spielgerät bestand aus zwei halbrunden Hirschledern, die mit Bambusstroh gefüllt und mit einem Lederriemen in der Mitte verbunden waren. Der Mari war etwas oval und hatte etwa die Größe eines heutigen Volleyballs. Außerhalb der Spielzeiten wurde er in Prunkschachteln aufbewahrt und von Priestern im inneren Tempelbezirk verwahrt. Den Tempelpriestern oblag auch die schiedsrichterartige Regelung des Spiels. Ihre Aufgabe begann mit der Kontrolle des ordnungsgemäßen Zustands des Platzes, der gereinigt und gesegnet sein musste.
Zunächst betraten die Spieler den Platz. Dann brachten die Priester den Mari aus dem Tempel, entnahmen ihn seiner Schatulle und segneten auch ihn. Auf eine Aufwärmphase, in der jeder Spieler den Ball einmal in die Höhe trat, folgte die Aufstellung der Mannschaft zu einem Kreis. Nun versuchten die Spieler über die Dauer von etwa 300 bis 400 Stößen, sich den Ball zuzuspielen, ohne dass dieser die Erde berühren durfte. Fiel der Mari zu Boden, so war der Spielzug augenblicklich beendet. (Heute übrigens, wenn sich Bundesligakicker beim vergleichbaren Fußballtennis vergnügen, darf der Ball zwischendurch durchaus auftipsen, wie Herthas Brasilianer Alex Alves neulich entsetzt fest stellte.)
Nach Abschluss des Spiels erfolgte die zeremonielle Verbeugung der Spieler voreinander, wie sie heute etwa im Sumo üblich ist, und die feierliche Rückführung des Balles in den Tempel. Aus dem 17. Jahrhundert ist ein Spielzug mit mehr als 5.000 Stößen überliefert. Keine Frage, dass das „Spiel für die Götter“ diesen gefallen haben wird. Ob sie die Ästhetik, mit der heutige Fußballprofis den Ball hochzuhalten versuchen, ebenso goutieren, wissen wir nicht.
STEFAN JORDAN
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