: Keine Angst – die tun nichts
Wahre Lokale (23): Das letzte Hippie-Reservat „Schliemann“ in Berlin-Prenzlauer Berg
Ein gelungener Samstagabend mit mehrfachem Lokalitätenwechsel neigt sich dem Ende zu, allein: Ein würdiger Schlusspunkt steht noch aus? Es dürstet Sie danach, die hässlichste Frau der Welt an ihrem Tisch begrüßen zu dürfen? Sie wollen Gin Tonic trinken? Dann gibt es nur eins: Steigen Sie in einen Fesselballon, fliegen Sie nach Berlin und springen Sie über dem Helmholtzplatz ab. Keine fünfzig Meter von hier findet sich, rechter Hand in der Schliemannstraße und zurzeit von einem Gerüst verdeckt, das „Schliemann“. Über die Gründe für die eigenwillige Namensgebung des Lokals ist nichts bekannt; wer jedoch vermutet, es handle sich um eine in Troja ausgegrabene und in die Reichshauptstadt verschleppte Nobelpinte, irrt. Aber nur ein bisschen: Denn wer hier eintritt, erlangt tatsächlich Zugang zu einer längst versunken geglaubten, geradezu märchenhaften Welt.
Machen Sie den Mund zu
Treten Sie also ein und staunen Sie: Die anwesende Kundschaft trägt bevorzugt Jeans, Leder aller Art, Karo-Muster und Fransen am Leib sowie lange Haare aus Filz oder Naturfasermischgewebe auf dem Kopf und im Gesicht. Haben Sie keine Angst: Die hier sitzen, tun keinem was, denn sie tun prinzipiell nicht viel. Wer ihnen allerdings Faulheit unterstellte, täte ihnen mehr als unrecht: Hier glaubt man noch, durch bloßes Herumsitzen und Nichtstun den Lauf der Dinge nachhaltig beeinflussen zu können, ja, einige wenige Anwesende glauben deutlich sichtbar sogar noch an Schach! Und ans Rauchen! (Ein Gewährsmann behauptet, das „Schliemann“ sei so etwas wie das letzte Hippie-Reservat Deutschlands, und wer bin ich, dass ich einem sehr kräftigen Gewährsmann widersprechen würde?) Kein Zweifel: Das „Schliemann“ ist das letzte Hippie-Reservat Deutschlands. Machen Sie den Mund wieder zu, nehmen Sie an einem der schlichten Holztische Platz und bestellen Sie was zu trinken, es ist ja alles vorhanden: Fanta, Cola, Bier, Wein, Schnaps, Spülwasser, Ihren geliebten Gin Tonic gibt es auch, und hinterm Tresen lockt ein umfängliches Whisky-Sortiment. Sogar warmes Essen gibt es, bis in die frühen Morgenstunden, und zwar „alles, was auf der Tafel da steht“, heute allerdings „nur Baguette mit Käse und Salami“, wie die überraschenderweise diesseits des Tresens, also jenseits der feindlichen Linien, nämlich auf der Gästeseite auf Barhockern lümmelnde Belegschaft ebenso gern wie umfassend als auch ungefragt erläutert: „Eigentlich haben wir auch noch Baguette mit Tomate und Mozarella, die Chefin will das. Die hat immer solche Ideen, hier noch mehr zu machen. Aber wenn die nicht da ist, dann haben wir da keine Lust zu. Da müsste ja jetzt einer von uns extra in die Küche gehen und Tomaten schneiden!“ Und das wäre nun wirklich (s.o.) gegen jede Vernunft. Widersprechen Sie also nicht, Sie stehen schließlich auf derselben Seite und ergo für dieselben Ideale ein. Gehen Sie zurück an Ihren Tisch, das Baguette kommt gleich, es wird dick mit zähschmelzendem Käse belegt sein und sehr gut schmecken, wie alles, was nachts um vier mit großem Hunger verzehrt wird.
Widersprechen Sie nicht
Zu Ihrer Tischgesellschaft hat sich mittlerweile eine fettleibige, von grauen Haaren umwucherte Person offenbar weiblichen Geschlechts und mittleren Alters gesellt. Sie trägt nichts als einen sportiven Trainingsanzug am Leib und ist gekommen, um den längst fälligen Schlussteil des Abends einzuläuten. Und zwar mit den Worten: „Hallo! Könnt ihr mich bitte mal vergraulen? Sonst bleibe ich doch wieder bis halb sechs Uhr morgens, und das steh’ ich nicht mehr durch!“ Geben Sie Ihr Bestes, das ist hier Pflicht. Eingeweihte wissen: Das „Schliemann“ darf erst schließen, wenn die hässlichste Frau der Welt erfolgreich von einem ebenso hässlichen Mann in die Flucht geschlagen ist. Vergraulen Sie also mit Ihren Freunden um die Wette. Aber seien Sie nicht zu plump! Sagen Sie Ihr nicht, dass sie die hässlichste Frau der Welt ist. Denn da sie wirklich nicht sehr gut aussieht, hat sie sich die Mühe, ein schlechter Mensch zu werden, ersparen können und derlei nicht verdient. Schauen Sie ihr lieber tief in die Augen und sagen Sie mit fester Stimme: „Ich mag deine Mutter.“ Es wird leider auch nichts nützen. Also trinken Sie weiter Ihren Gin Tonic, später dann Whisky, und der Rest wird sich dann sicher wie von selbst ergeben. Die hässlichste Frau der Welt ist nämlich in Wahrheit die schönste Frau der Welt. Sie müssen nur mit ihr nach Hause gehen und sie erwecken. Vertrauen Sie mir, ich weiß, wovon ich rede. Im Märchen ist schließlich alles möglich. BENJAMIN SCHIFFNER
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