: Chiles Geschichte kommt doch noch vor Gericht
Pinochet ist nicht mehr immun. Beim anstehenden Berufungsverfahren vor dem Obersten Gericht verbergen juristische Spitzfindigkeiten eine historische Debatte
BUENOS AIRES taz ■ Mit dreizehn zu neun Richterstimmen hat am Montag der Senat eines Gerichts in Santiago wahr gemacht, was vor zwei Wochen als unbestätigte Meldung durchgesickert war: Die parlamentarische Immunität von Exdiktator Augusto Pinochet ist aufgehoben. Damit wäre der Weg frei für einen Prozess gegen den 84-Jährigen.
Die Anwälte Pinochets haben jetzt fünf Tage Zeit, vor dem Obersten Gerichtshof Chiles Berufung einzulegen und haben schon angekündigt, dies tun zu wollen. Dann hat das letzte Wort in der Sache Pinochet der Oberste Gerichtshof. Sein Urteil ist unumstößlich. Bestätigt auch er die Aufhebung der Immunität Pinochets, kann nur noch ein Attest über geistige Unzurechnungsfähigkeit den greisen Exdiktator davor bewahren, sich vor Gericht verantworten zu müssen.
Die Richter vertraten die Ansicht, dass stichhaltige Beweise es nahe legen, dass Pinochet verantwortlich ist für die Entführung von 19 Oppositionellen im Oktober 1973. Einen Monat nach dem damaligen Militärputsch soll auf Pinochets Befehl die so genannte „Todeskarawane“ durchs Land gezogen sein, um Oppositionelle zu exekutieren. Insgesamt sind der Schreckenstruppe unter Führung von General Sergio Arellano 56 Menschen zum Opfer gefallen. Die Leichen von 19 weiteren wurden niemals gefunden. Sie gelten deshalb noch immer als entführt und fallen somit juristisch nicht in die Zeitbegrenzung, innerhalb derer Menschenrechtsverletzungen in Chile durch die Amnestiegesetze straflos gestellt sind.
Auf 3.500 Seiten hat der Sonderstaatsanwalt Juan Guzmán Material über die „Todeskarawane“ zusammengestellt und dem Gericht vorgelegt. Guzmán war der erste Jurist in Staatsdiensten in Chile, der eine Anzeige gegen Pinochet zugelassen hat. Heute stapeln sich auf seinem Schreibtisch 110 Anzeigen gegen den ehemaligen Diktator, und täglich werden es mehr.
Mit Tränen in den Augen stand Viviana Diaz, die Vorsitzende der Organisation der Diktaturopfer, nach der Urteilsverkündung am Montag im Gerichtssaal. „Es scheint unglaublich, was wir gerade gehört haben, aber wir haben es geschafft“, sagte sie. Ungleich kühler äußerte sich der ehemalige Exilierte und heutige Präsident Ricardo Lagos: „Dies ist eine Gerichtsentscheidung. Die Regierung respektiert diese Entscheidung und kommentiert sie nicht.“ Die pinochetfreundlichen Streitkräfte sagten nur, dass sie nichts sagen würden.
Noch ist das Berufungsverfahren vor dem Obersten Gerichtshof abzuwarten. Doch die Klägeranwälte sind zuversichtlich. „Vor dem Obersten Gerichtshof habe ich noch weniger Zweifel, dass wir es schaffen werden, ihm die Immunität abzuerkennen, was dann die Möglichkeit schaffen würde, dass gegen ihn ermittelt wird und ein Haftbefehl gegen ihn erlassen wird“, sagt Eduardo Contreras, einer der Klägeranwälte.
Ausschlaggebend für die Entscheidung des Obersten Gerichtshofes werden juristische Spitzfindigkeiten sein. Verhandelt wird das Monopol auf Geschichtsschreibung in dem Land. Zwar melden sich die Angehörigen der Opfer des Pinochet-Regimes lautstark zu Wort und jetzt haben sie auch erste Erfolge in den Gerichten zu verzeichnen. Aber gewonnen ist damit noch nichts. Noch immer ist die chilenische Gesellschaft über Pinochet gespalten.
Ein verurteilter Pinochet würde ein für alle Mal die Geschichte des Landes zu Gunsten der Opfer und des demokratischen Denkens interpretieren. Dann endlich stünde es schwarz auf weiß: Pinochet ist ein verurteilter Verbrecher. Daher hat der Oberste Gerichtshof in einer Berufungsverhandlung in Wirklichkeit darüber zu entscheiden, wie die Geschichte Chiles künftig geschrieben werden soll. Die Richter haben die Wahl, wie später einmal die Meinung auf der Straße lauten wird: Pinochet hat die Demokratie nach Chile zurückgebracht – oder er hat sie begraben. Letzteres ist der Fall. Es ist an der Zeit, dass es alle im Land hören.
INGO MALCHER
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen