: Alle Menschen werden Brüder
Jacques Derridas Lektüre der philosophischen Freundschafts- und Politiktraktate ist im Grunde genommen eine lange Fußnote zu einem problematischen Satz des Aristoteles. Wie es sein Ausgangspunkt nahe legt, beschränkt er sich auf die immanente Analyse der abendländischen Höhenkammliteratur
von FRIEDRICH BALKE
Freunde der Weisheit oder des Wissens nennen sich die Philosophen. Seit den Zeiten Platons und Aristoteles’ haben sie der sophia, dem Wissen, weit weniger Aufmerksamkeit geschenkt als der philia, der Freundschaft. In seinem großen, annähernd 500 Seiten umfassenden „Essay“, der zudem nur ein „langes Vorwort“ sein möchte – gehörte der Essay nicht einmal zu den kürzeren Prosaformen? –, durchquert Jacques Derrida in gewohnt umwegiger Manier die abendländische Philosophiegeschichte, um die Entwicklung dessen nachzuzeichnen, was er den „griechischen Kanon der Freundschaft“ nennt – einen Kanon, der bereits im Moment seiner Konstitution bei Platon und Aristoteles den Einspruch gegen sich selbst mitformuliert. Was Derrida vorgelegt hat, ist im Grunde eine monströse Fußnote zu einem – problematischen – Satz des Aristoteles. Problematisch ist dieser Satz aus zwei Gründen: Zum einen ist er überlieferungsgeschichtlich nicht recht gesichert, zum anderen liegt er in zwei grammatisch unterschiedlichen Versionen vor, die seine Bedeutung erheblich modifizieren.
Die geläufige, ihrerseits kanonische Version des Satzes, der Aristoteles zugeschrieben wird, hat die Form eines Appells und formuliert ein offenes Paradox: „O meine Freunde, es gibt keinen Freund.“ Der Satz ist skandalös und das in einem doppelten Sinn. Nicht nur treten Adressat und Inhalt des Satzes in einen eklatanten Widerspruch: Wie kann sich der Philosoph an seine Freunde mit einem Satz wenden, der die Existenz von Freunden bestreitet? Die weitaus größere Provokation der Äußerung liegt aber zweifellos in ihrer Kampfansage an die Philosophie selbst, die den Begriff des Freundes und der Freundschaft zu ihren Grundbegriffen machte. Dort, wo die griechische Philosophie sich mit den Modalitäten des Zusammenlebens und Zusammenhandelns beschäftigt, stoßen wir auf die Figur des Freundes. „So weit also Gemeinschaft besteht, so weit besteht Freundschaft“, schreibt Aristoteles in der Nikomachischen Ethik. Politik kann es daher nur zwischen Freien und Gleichen geben, zwischen Freunden, die zugleich herrschen und beherrscht werden: Was mochte Aristoteles getrieben haben, dass er, der in seinen Büchern über die Ethik und die Politik den philosophischen Kult der Freundschaft auf die Spitze trieb, in einem einzigen Satz die Möglichkeit der Freundschaft in Abrede stellte?
Die Wonnen der Freundschaft
Derrida liest den Satz symptomatologisch. Seine Äußerung verrät etwas über die Philosophie im Ganzen, genauer: Sie bezeugt deren schlechtes Gewissen ausgerechnet dort, wo der philosophische Diskurs redselig die Wonnen der Freundschaft und das Glück einer auf sie gegründeten politischen Lebensform beschwört. Etwas stimmt mit der Freundschaft nicht, der Freundschaft selbst liegt ein Paradox zugrunde, das die Gleichheit betrifft. Die Gleichheit der Freunde ist nicht die Gleichheit derer, die verschieden sind und sich in ihrer Differenz bejahen, sondern die Gleichheit einer von ihnen geteilten Substanz.
Zunächst hat es den Eindruck, als hieße die Politik, die auf Freundschaft gegründet ist, alle willkommen. Und in der Tat hat kaum eine der zahlreichen Partizipationsutopien der europäischen Geschichte vergessen, sich auf die philosophischen Entwürfe der Polisdemokratie zu beziehen. Niemand ist ausgeschlossen – und doch sind keineswegs alle zugelassen. Im Zentrum der Dekonstruktion dessen, was Derrida den „griechischen Kanon der Freundschaft“ nennt, steht dessen verwandtschaftliche, „androzentrische“ Struktur. Über alle Epochen des Abendlandes hinweg bis in unsere Gegenwart hinein war der Freund immer der Bruder. Das Politische haben die Griechen zwar an die Gleichheit vor dem Gesetz gebunden, aber diese viel gerühmte Isonomie, die die modernen demokratischen Revolutionäre gegen die absolutistischen Monarchien wieder entdecken werden, konnten sie nur zugestehen, weil sie sie in einer Isogonie, also einer Gleichheit der Herkunft oder der Geburt nach fundierten.
Das gleiche Recht ist nur der Ausdruck einer gleichen Natur, der demokratische Impuls, niemandes Knecht oder Herr sein zu wollen, entspringt nicht einem genuin politischen Begehren, sondern ist in einer ursprünglichen, der Sphäre des Politischen vorgelagerten verwandtschaftlichen, familiaren Verbundenheit verwurzelt. Dass es also, dem Satz des Aristoteles zufolge, keine Freunde gibt, kann man daher auch als Aufforderung lesen, das Modell der Freundschaft endlich von dem der „Gleichbürtigkeit“ (wie Schleiermacher Platon übersetzt) zu lösen und das Gesetz (nomos) nicht länger auf die Natur (physis) zu gründen. Denn, wie Derrida zu Recht einwendet, wer hätte schon jemals einen Bruder gesehen? Und: Warum schweigen die philosophischen Texte so beharrlich über die Schwester? Gehört sie nicht auch zur Familie?
Das Ökonomische konstituiert Politik
Derridas Lektüren der philosophischen Freundschafts- und Politiktraktate zeigen, dass das Politische von vornherein ökonomisch konstituiert ist, dass das Ökonomische den Sinn des genuin Politischen nicht korrumpiert, sondern dieser Sinn gar nicht ohne Bezugnahme auf die oikeiotes zu denken ist. Die oikeiotes, lateinisch: propinquitas, ist nicht leicht zu übersetzen, aber, so Derrida, „sie bildet ein Geflecht von Bedeutungen aus, auf die es uns hier entscheidend ankommt und die sämtlich um einen semantischen Fokus, nämlich um nichts anderes als den Fokus (oikos) selbst versammelt sind, um den Herd, das Haus, die Heimstatt – und das Grab. Verwandtschaft im buchstäblichen und im übertragenen Sinne, Häuslichkeit, Familiarität, Vertrautheit, Eigentum, also Nähe dessen, was man sich zu Eigen machen, kurzum: Alles, was eine Ökonomie versammeln, in der Vertrautheit oder Familiarität des Nahen oder Nächsten zusammenfügen, zur Übereinstimmung oder in Einklang, ich würde sogar sagen: zur Anwesenheit bringen kann.“
Wer ist also der Freund? Kurz gesagt: der, der nah ist. An dem Wert einer so verstandenen Ökonomie, die heute, im Zeitalter ihrer effektiven Globalität, jederzeit das Fernste und Fremdeste nahe bringt und dem privaten Genuss offeriert, in erster Linie natürlich auf den Bahnen der neuen und neusten Kommunikations- und Informationsmedien, an den Wert dieser Semantik des Proximalen hat Derrida stets gezweifelt. Derrida greift Motive französischer Philosophen und Essayisten dieses Jahrhunderts auf, unter ihnen Georges Bataille, Maurice Blanchot, Jean-Luc Nancy, um nach einer „Freundschaft ohne Fokus“, „nach einer Freundschaft ohne Anwesenheit, ohne Ähnlichkeit, ohne Affinität, ohne Analogie“ zu fragen.
Das Werk Carl Schmitts, die in ihm vorgenommene Reduktion des Politischen auf die Unterscheidung von Freund und Feind, ist für Derrida das weithin sichtbare Zeichen der Krise nicht einer bestimmten Politik, sondern des Politischen überhaupt, sofern es nicht ohne die Unterstützung einer bestimmten „Ökonomie“ auskommt, die die Freundschaft über den Ausschluss des Fremden, Unzugehörigen, Fernen, des Heterogenen bestimmt. Dass Schmitt diesen Versuch einer erneuten Schließung des Politischen gegen die in der Moderne übermächtig werdenden sozialen und kulturellen Entortungsdynamiken ausgerechnet im Namen des christlichen Europas vornimmt, ist umso erstaunlicher, als das Christentum mit seinem Gebot der Nächstenliebe eine erste kulturelle Öffnung des antiken Freundschaftsmodells bewirkte. Denn das Gebot, seinen Nächsten zu lieben, verstand den Nächsten ja gerade nicht als den verwandtschaftlich Zugehörigen, sondern als den beliebigen Nächsten und insofern auch als den Fernsten: Ja, das Gebot ging bekanntlich sogar so weit, ausdrücklich auch den Feind einzuschließen.
Von einer „Delimitierung“ der Freundschaft durch das Christentum spricht Derrida daher zu Recht – ohne sich allerdings in seinen weiteren Textanalysen mit dem historischen Apriori und den inneren Grenzen der christlichen Freundschaft, die ursprünglich wesentlich „Hospitalität“, also Gastfreundschaft ist, zu beschäftigen. Die christliche „Großzügigkeit“ und der aus ihr erwachsende christliche Kosmopolitismus sind nämlich durch eine Ambivalenz gekennzeichnet, die ihnen zum Verhängnis wird: Insofern sie den anderen Glauben ausschließt, leistet sie einer Repolitisierung des „Neuen Bundes“ und schließlich seiner Aneignung durch die Instanzen des römischen Staates Vorschub.
An dieser Stelle scheint mir ein Wort der Kritik angebracht: Die bewusste Beschränkung des dekonstruktiven Interesses auf die Beschäftigung mit der philosophischen Höhenkammliteratur wird von Derrida auch in der Politik der Freundschaft vehement verteidigt. Von den Kräften, die von außen auf diesen Kanon einwirken und seinen Argumentationsfiguren ihre historisch durchaus variable Funktion anweisen, erfährt man wenig. Einmal heißt es selbstkritisch, dass neben der Analyse der Figuren der Brüderlichkeit auch die „Geschichte der Orden, der Bruderschaften als Institutionen“ erforderlich sei – sowie eine „entsprechende und ebenso dringliche Untersuchung [...] der Figur des Bruders in der arabisch-islamischen Kultur“. Derrida geht sogar so weit, sich selbst ins Stammbuch zu schreiben: „Angesichts dieser Aufgabe gibt es keine vertretbare Rechtfertigung dafür, ihr nicht nachzukommen.“ Genauso ist es.
Alle Versuche, den griechisch gestifteten Kanon der Freundschaft zu verlassen, verstricken sich nur umso tiefer in ihn. Die philosophischen Öffnungsversuche etwa Montaignes oder Nietzsches führen nicht wirklich zu einer Freundschaft, die von der Gabe und einer rückhaltlosen Generosität her inspiriert wäre, sondern weiten lediglich den Anwendungsbereich des Modells aus. Statt den Freund von der Gestalt des Bruders und vom genealogischen Phantasma zu lösen, verwandeln sich schließlich alle Menschen in Brüder. Die kanonische Freundschaft schließt die Freundschaft zwischen Frauen ebenso wie die zwischen Männern und Frauen aus, fasst Derrida am Schluss noch einmal seine wichtigsten Einwände zusammen. „Warum diese Heterogenität von eros und philia?“, lautet die entscheidende Frage, die er an die klassische Politik der Freundschaft stellt. Dass die „abendländische“ Freundschaft nach dem Modell der Brüderlichkeit gedacht wird, verleitet Derrida dazu, allzu schnell auf eine homophile, ja homosexuelle Ausrichtung des Freundschaftskanons zu schließen – ohne sich die Frage zu stellen, ob es statthaft ist, das im 19. Jahrhundert erfundene psychopathologische Konzept der Homosexualität von seinen diskursiven Entstehungsbedingungen abzulösen und als das „Wesen“ der Freundschaft auszugeben.
Freundschaftzwischen Frauen
Nun geht aber die androzentrische Symbolisierung der Freundschaft, worauf Michel Foucault in seinen Überlegungen zur Freundschaft hingewiesen hat, die meiste Zeit durchaus mit einer rigiden Ausschließung homophiler Lebensformen einher. Die Freundschaft zwischen Frauen, so Foucault, konnte bis in unsere Gegenwart hinein kulturell viel eher akzeptiert werden als die zwischen Männern: „Frauen hatten ein Recht auf den Körper der anderen Frau: sich um die Taille fassen, sich umarmen. Der Körper des Mannes war dem Mann auf viel drastischere Weise verboten.“ Einzig während der Kriege und in den Gefangenenlagern lebten Männer sozial sanktioniert zusammen. Unter den infernalischen Bedingungen einer todgeweihten Existenz gaben sie ihrem aufgezwungenen Zusammenleben eine Form, die ein Gewebe von Gefühlen entstehen ließ, das sich hinter den mystifizierenden Vokabeln von „Kameradschaft“ und „Blutsbrüderschaft“ verbirgt. Die Armee, die, so Foucault, die Liebe zwischen Männern unaufhörlich beschwört und verhöhnt, hätte das Interesse des Philosophen verdient, der die androzentrische Struktur der Freundschaft als eine problematische kulturelle Invariante beschreibt und beklagt. Vielleicht nämlich besteht das größte Paradox des Paares Bruder-Freund darin, dass die Freundschaft nirgendwo so stark verworfen wird wie dort, wo sie das homophile Versprechen der kanonischen Texte einzulösen scheint.
Jacques Derrida: „Politik der Freundschaft“. 491 Seiten, Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main 2000, 88 DM
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen