: Zensur ist die beste Leserin
Wolfspässe – so hießen in der Sowjetunion die Ausweise der Unbotmäßigen. „Wolfspass“ – so betitelt der russische Volksdichter und Vorzeigedissident Jewgeni Jewtuschenko seine Autobiografie
von AURELIANA SORRENTO
Der Anfang ist bestrickend und irreführend. Man schreibt das Jahr 1932, die Nacht vom 17. auf den 18. Juli. Russische Provinz, Stalin-Ära, Majakowski hat sich vor zwei Jahren das Leben genommen. Während seine Frau im nahen Entbindungshaus ihren Sohn zur Welt bringt, vertreibt sich der Moskauer Geologe Alexander Rudolfowitsch Gangnus die Stunden beim Kartenspielen. Die Sache endet, wie solche Angelegenheiten im literarischen Russland zu enden pflegen: Der Stationsvorsteher, sein Gegner, verspielt den letzten Rubel einschließlich der Bahnhofskasse und jagt sich zur Ehrenrettung eine Kugel durch den Kopf.
Zeitgleich mit dem Schuss ertönt in der Klinik auf der anderen Seite des Bahnhofsvorplatzes der Schrei des neu geborenen Jewgeni Alexandrowitsch Jewtuschenko. So entpuppt sich die vergnügliche Provinznovelle als erstes Kapitel einer Lebensgeschichte, bei der die Literatur offenbar schon im Kreißsaal mitgemischt hat. Und das musste der Dichter in seiner Autobiografie, die unter dem Titel „Wolfspass“ erschienen ist, dem Leser von Anfang an klarmachen.
Wer sich aber von diesem romanhaften Auftakt zu dem Schluss verleiten ließe, mit diesem Lebensbericht sei die Literarisierung einer Vita bezweckt, wäre auf den Holzweg geraten. Jewgeni Alexandrowitsch Jewtuschenko, in Nischneudinsk geboren, in Sima aufgewachsen, später mit der Mutter nach Moskau gezogen, mit 15 ein Dichter, der gedruckt wurde und sich im Kometenschweif Majakowskis wähnte, diesem Dichter also lag die Feil-, Schleif- und Erfindungsarbeit immer weniger am Herzen als der lautstark proklamierte Standpunkt.
„Wolfspass“– so wurde der Ausweis genannt, mit dem im zaristischen Russland und später auch in der Sowjetunion systeminkompatible Individuen belegt wurden. Jewtuschenko verhehlt nicht, seinen Wolfspass in der Schule unverdientermaßen abbekommen zu haben. Er reklamiert aber für sich das Abzeichen des Dissidenten als Omen auf seinem Lebensweg. Im Sinne seiner Zeilen: „Vielleicht einst späterhin von meinem Volk geehrt,/ weil ich mein Leben immer kämpfend hier vollbracht;/ weil ich meiner Zeit die Unfreiheit gelehrt / von dem gerechten Kampf – nur für der Freiheit Macht.“ „Wolfspass“ – das ist Eingeständnis, Selbstbestätigung und Selbstbeweihräucherung.
In Wahrheit musste Jewtuschenko nicht allzu lange warten, mit Lorbeeren gekrönt zu werden. Schon in den Sechzigern machte er Furore. In der Heimat als Sprachrohr seiner Generation verehrt, wurde er im Westen als prominentester Vertreter jener inneren Opposition angesehen, von der sich die europäischen Linke eine Reform des Sowjetkommunismus versprach. In der Autobiografie schildert er aber ausführlich, wie er sich aalgleich durch die Maschen der „Unfreiheit“ schlängelte, um „für der Freiheit Macht“ zu kämpfen. Das Kapitel „Die Zensur, die beste Leserin“ ist das aufschlussreichste des Buches. Nicht nur, weil sich der Dichter damit gegen den Vorwurf verteidigt, allzu viele Kompromisse mit den Sowjetbonzen eingegangen zu sein. Wenn er Korrekturen und sonstige Schikanen in Kauf nahm, sagt er, konnte er auch Verse durchdrücken, aus denen die Wahrheit sprach. Aus heutiger Sicht ist aber vor allem die Tatsache denkwürdig, dass er oft durchs Umgehen der hierarchischen Strukturen zu seinem Ziel gelangte. Zum Beispiel indem er eine Anfrage geradewegs ans Politbüro richtete, in dem oft progressivere Männer saßen als in den unteren Parteirängen. Die Zensur war auch die Instanz, die Jewtuschenko und anderen Dichtern seiner Generation zu ihrer besonderen Stellung in der sowjetischen Gesellschaft verhalf. Wo er auf seinen Freund und Weggefährten Bulat Okudschawa zu sprechen kommt, bringt Jewtuschenko das damalige Verhältnis zwischen Schriftstellern, Lesern und Wächtern auf den Punkt: „Wir erschufen die Lyrikleser neu, indem wir laut sagten, was sie dachten, und sie erschufen uns durch ihre Unterstützung, die ihnen manchmal freilich teuer zu stehen kam.“
Einen westlichen Leser wird die Teilnahme befremden, mit der Setzer, Redakteure und einfache Hilfsarbeiter die Erscheinung von Jewtuschenkos Gedicht „Babi Jar“ verfolgten – ein Gedicht, in dem er 1961 den sowjetischen Antisemitismus anprangerte. Noch heftiger verblüfft die Nachricht, dass derjenige Funktionär, der die Veröffentlichung der Lieder Wyssozkis verhinderte, in seiner Freizeit sich dieselben Songs von einer Samisdat-Kassette zu Gemüte führte. Solche Details machen das Buch über das Biografische hinaus interessant. Man versteht dann, woher der Volksvaterton kommt, in dem sich der Autor dicke tut, und gewinnt zugleich Ausblick auf ein Panorama, in dem das Sowjetimperium implodiert. Besser als Geschichts- und Soziologiebücher liefert Jewtuschenkos Autobiografie ein Bild der Gesellschaft.
Dabei wirkt es nie wie eine Historienschwarte. Dafür sorgt schon das stete Dazwischenreden des Autors. Jewtuschenko kann es sich nicht verkneifen, Stellung zu nehmen, Schlüsse zu ziehen, moralische Betrachtungen anzustellen. Zum Beispiel findet sich zwischen einer Nazi-Schulfreund-Anekdote und der Beschreibung von Stalins Begräbnis, bei dem zahlreiche Demonstranten von der Menge zertrampelt wurden, die Einsicht, „dass Stalins größtes Verbrechen nicht darin bestand, dass auf seinen Befehl Menschen verhaftet und erschossen wurden. Ein nicht geringeres Verbrechen war es, dass er menschliche Seelen moralisch zersetzte.“ Die belehrende Platitüde lässt man durchgehen um der eindrücklichen Darstellung willen. Auch deshalb, weil Jewtuschenko ebenso leichtfüßig vom erbauenden zu dem ironisch-amüsierten Ton springt, wie er zwischen seinen etlichen Frauen herumhüpfte.
Letzteren ist ein langes Kapitel seiner Autobiografie gewidmet, von dem man nicht sicher sagen kann, ob es sich um eine Liebeserklärung an seine vier Ehefrauen oder an das weibliche Geschlecht partout handelt. Freunde und Mitstreiter hat er hingegen mit hinreißenden Porträts bedacht, die den zweiten Teil des Buches ausmachen. Zuletzt muss er freilich sein Augenmerk auf Russland lenken. Jewtuschenko fordert die Chance, sich nicht für alles schämen zu müssen. Zuversichtlich stimmt es ihn, dass während der Rubelkrise in Moskau die Menschen für ihr letztes Geld haufenweise Bücher kauften. Das ist allerdings eine alte Geschichte: die des Volkes und seines Dichters.
Jewgeni Jewtuschenko: „Der Wolfspass“. Aus dem Russischen von Thomas Reschke. Verlag Volk und Welt, Berlin 2000. 428 Seiten, 48 DM
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen