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einige sekunden ereignet sich nichts

Ernst Jandl war ein Wortschnitzer und Sprachkomödiant, der erste Slam-Poet und wichtigster experimenteller Dichter nach dem Krieg. Am Freitag ist er gestorben. Mit „Nachruf – Ein Film in schwarzweiss“ hat er schon 1970 für seinen eigenen Grabgesang gesorgt

1 schwarz die tiefe des weltraums, übersät von sternen verschiedener grösse, spiralnebeln, milchstrassen. keine bewegung – ausser dem funkeln der sterne.

2 aus der tiefe des raums taucht, im unteren drittel der bildmitte, ein leuchtender runder flugkörper, erst nur durch seine bewegung, nicht durch seine grösse von den umgebenden sternen unterschieden; im flug von unten auf den bildmittelpunkt zu allmählich grösser werdend, erscheint dieser flugkörper erst vage, dann deutlich, als ein kopf, ein gesicht.

es ist das gesicht eines mannes, alterslos, blass, ohne bart, über der nicht zu hohen stirn abgeschlossen von einem schimmernden flaum von haar. das gesicht, immer genau von vorn symmetrisch in der bildmitte, wirkt weder schlaff noch straff; es ist von einer seltsamen, nur angedeuteten flachheit, leblos, doch nicht mit bestimmtheit tot. mund und augen sind geschlossen, nicht krampfhaft, sondern die lippen, die lider, leicht aneinandergelegt. die geschlossenen augenlider wirken gerade in dem mass eingesunken, dass zweifel möglich ist, ob dahinter augäpfel sind. der gesamteindruck des gesichts könnte vermuten lassen, dass der knochenschädel dahinter nicht mehr vorhanden ist, obwohl die gesichtsform hält. es ist, in nuancen seiner plastischen form, wie ein gummigesicht, eine maske aus gummi, ausgebreitet gehalten doch nicht übergezogen; in seinem gewebe hingegen besteht es, jenseits von zweifel, aus dem material eines echten gesichts.

3 sobald nur noch ein schmaler streifen das grösser werdende gesicht vom oberen und unteren bildrand trennt, steht es still und behält bis gegen ende seine grösse und haltung. am punkt, da das gesicht zum stillstand kommt, setzt, an allen vom gesicht nicht verdeckten stellen des sichtbaren weltraums, der flug der sterne ein, gleichmässig, auf einen vom gesicht verdeckten zielpunkt in unendlicher ferne zu. dieses vorbeiströmen der sterne nach hinten gibt den eindruck, dass der flug des gesichtes durch den raum fortdauert. während einiger sekunden ereignet sich sonst nichts.

4 aus der mitte des linken auges, zwischen den geschlossenen lidern hervor, ohne weitere veränderung des auges, tritt in langsamer drehung, mit der spitze voran, ein schräubchen, fällt heraus, gefolgt von dem vorderen ende eines ins leere stossenden, sogleich wieder zurückgezogenen schraubenziehers. das schräubchen kollert kurz über das oberste stück wange, fällt herab und verschwindet im unteren bildrand, am auge hat sich nichts verändert. während einiger sekunden ereignet sich nichts.

5 aus der mitte des rechten auges, zwischen den geschlossenen lidern hervor, sie an dieser stelle aufspreizend, aber sonst ohne veränderung des auges, tritt in langsamer drehung, wesentlich mächtiger als das schräubchen, die schraube eines korkziehers, wird bedächtig weitergedreht und in solcher länge sichtbar, als ein korkzieher beim entkorken einer flasche in den kork eindringt, und wird dann, wie beim entkorken, nach kurzem anhalten mit einem heftigen ruck nach hinten zwischen den lidern, die sofort wieder in ihre ursprüngliche stellung zurückschnappen, herausgezogen. während einiger sekunden ereignet sich nichts.

6 aus dem linken auge, zwischen den geschlossenen lidern hervor, von einem durchmesser, der etwa zwei drittel der länge des spalts der geschlossenen lider beträgt, schiebt sich langsam, den kopf voran, der schwarze körper einer schlange. sobald genug körper aus dem auge getreten ist, um der schlange ein freies bewegen des kopfes zu gestatten, wippt ihr kopf, züngelnd, vorsichtig einige male nach links und rechts, bewegt sich dann, während der körper weiter aus dem linken auge gleitet, langsam auf das rechte auge zu, schiebt sich in dieses hinein und beschreibt im weiteren, während der lange körper unaufhörlich aus dem linken auge gleitet, langsam folgenden weg: aus dem rechten ohr heraus; nach wippenden suchbewegungen hinüber zur rechten nasenöffnung; in diese hinein; aus dem linken ohr heraus; nach wippenden suchbewegungen hinunter zum mund; in diesen hinein; aus der linken nasenöffnung heraus. sobald, kopf voran, der körper sich aus der linken nasenöffnung schiebt, zieht die schlange ihr körperende aus dem linken auge heraus; sie ist nun in ihrer ganzen länge, im kopf des mannes verschlungen, hervorgetreten, das linke auge des mannes ist unverändert wie zu beginn. während der körper sich weiter aus der linken nasenöffnung herausschiebt und der kopf sich nach wippenden suchbewegungen züngelnd dem linken auge nähert, zieht sich das körperende durch das rechte auge des mannes in den kopf des mannes zurück, wonach das rechte auge des mannes unverändert ist wie zu beginn. die schlange taucht mit dem kopf in das linke auge hinein und zieht, gleichmässig und langsam, ihren körper nach, bis als letzter sichtbarer rest das körperende der schlange im linken auge verschwindet.

7 kaum ist im linken auge das körperende der schlange verschwunden, beginnen die bisher nicht sichtbaren zähne des mannes so zu wachsen, dass die langsam länger werdenden zähne die beiden kiefer gleichmässig und langsam nach oben und unten auseinanderdrücken, während die beiden zahnreihen immer geschlossen bleiben und die berührungslinie zwischen den beiden zahnreihen nicht von der stelle rückt. die zähne wachsen weiter, der oberkiefer wird immer weiter nach oben, der unterkiefer immer weiter nach unten gezwungen, die lippen werden immer weiter zerdehnt, bis schliesslich der mundraum, dargestellt durch die enorm langen zähne und die zum zerreissen gespannten lippen, ein oval geworden ist, das sich von der scheitelstelle des kopfes bis zur kinnstelle des kopfes erstreckt; stirn, augen und kinn sind bei diesem vorgang allmählich an die nicht sichtbare seite des kopfes verdrängt worden, nur ein stück nase, mit den nasenöffnungen, ist ganz oben zu sehen, eine kleine spitze mütze. rechts und links von dem oval stehen, aufs äusserste gedehnt, die wangen, mit den ohren dran. so bleibt das gesicht eine zeitlang unbeweglich, dann, von oben und unten gleichzeitig, als hätten die zähne plötzlich allen halt verloren und würden in den ober- und unterteil des gesichts jäh zurückfahren, rutscht das gesicht in sein ursprüngliches aussehen zurück. während einiger sekunden ereignet sich nichts.

8 mit einem schlag stülpt sich die nase nach innen. so ist an der stelle der nase eine nische entstanden. nach einigen sekunden ohne veränderung wird in dieser nische ganz langsam ein liebliches standbild der madonna sichtbar. durchscheinend erst, gewinnt es allmählich an substanz und erscheint schliesslich ganz fest, ein gegenstand, aus einer masse, etwa gips. um dieses standbild herum, gegen welches die nische nun sehr dunkel wird, erhebt sich, im rahmen der nische, ein wundersames leuchten. einige zeit ereignet sich nichts, dann rasselt vor dem bild, die kontur der nische, der nasenstelle, genau einhaltend, ein rolladen herab. die nische bleibt durch die gewellte blechfläche des rolladens verschlossen.

9 kaum ist der rolladen heruntergerasselt, beginnt der ganze kopf seine haltung zu verändern; er neigt sich langsam vor, die augen senken sich tiefer, die stirn wölbt sich nach vorn, darüber gross das schädeldach, an dem ein flaum von haar kaum auffällt; das kinn, zugleich, erscheint nach hinten gezogen, kleiner und spitzer. in seiner höhe nimmt der kopf nun nicht weniger raum ein als vorher, nur seine haltung ist anders. zugleich mit der änderung der haltung verändern sich die konturen, beginnen an stellen zu verschwimmen, stirn und schädel bewegen sich langsam, wolkig, wie atmend, werden langsam zu langsam sich verändernden wolken; die augen, geschlossen, fliessen in einen einzigen langen geschlossenen spalt zusammen, der sich, samt den umliegenden partien, immer mehr in die breite zieht und das obere bilddrittel nach unten begrenzt; die augenbrauen, bisher nicht auffallend, brennen plötzlich sprühend ab; sobald ihr letzter funke erlischt, beginnt es aus dem langen horizontalen spalt dicht zu schneien, grosse weisse flocken, die im unteren bildrand versinken. gewölk im oberen bilddrittel, dichter schneefall im übrigen bild lassen vom hintergrund – weltraum mit ziehenden sternen – nichts mehr sichtbar.

10 in den wolken im oberen bilddrittel wird, links an der mitte, nackt, behaart, sitzend, neptun mit dreizack sichtbar; dann rechts neben ihm sitzend, das lange kleid faltig gerafft, der nazarener; dann, in der mitte über den beiden, in einem lichterkranz eine weisse taube mit ausgebreiteten schwingen. diese figuren bewegen sich nicht; nur neptun wirkt echt, der nazarener hingegen künstlich, aus einer masse wie gips, künstlich auch die taube. nach einigen sekunden verblasst die gruppe, wird transparent, löst sich auf, während zugleich an der gleichen stelle gross die ziffer 3 eingeblendet wird und schliesslich, gegen den hintergrund der sich ständig langsam verändernden wolken, strahlend leuchtet. nach einigen sekunden legt sich die 3, immer zentral, so auf den rücken, dass sie ein leuchtendes omega # bildet, das allmählich, und dabei blässer werdend, anwächst, bis es genau auf die kontur eines arsches im hocken passt, der nun eingeblendet wird und das spiel der wolken nur noch unterhalb und ganz an den seiten zulässt. der arsch, der das obere bilddrittel zu einem grösseren teil füllt, ist ein solides stück fleisch, blass, ohne leuchten, und zweifellos echt. das arschloch beginnt zu arbeiten, dann fallen in ununterbrochener folge kleine dunkle brocken heraus, die, sobald sie in die schneiende bildzone eintreten, sich in kleine gartenzwerge verwandeln, die, zwischen den schneeflocken niederschwebend, sich vergrössern und dann im unteren bildrand versinken. zu diesen gartenzwergen mischen sich aus der gleichen quelle einzelne krippenfiguren, niederschwebend und versinkend: josef; zwei hirten; die 3 könige; ein lamm; die engel; als letzte dieser figuren schwebt das kind nieder, auf dem rücken liegend, ohne krippe; es schwebt am langsamsten und wird, leuchtend, am grössten. während seines sinkens endet in der zone, die es jeweils durchmessen hat, der schneefall. dort wird der schwarze weltraum, mit sternen, die stillstehen, sichtbar und breitet sich nach oben, bis an den arsch heran, aus.

wenn das kind im unteren bildrand versunken ist, zeigt das bild im oberen drittel den arsch weiterhin in gleicher stellung, nicht mehr scheissend, und im übrigen den schwarzen weltraum voll funkelnder sterne, die sich nicht von der stelle bewegen. kaum ist der letzte rest des kindes nach unten verschwunden, schiesst aus dem arschloch, in richtung schräg nach rechts unten, wie ein blitzstrahl der name e r n s t j a n d l in leuchtschrift und bleibt einige sekunden, sich vom arschloch schräg nach unten an den rechten bildrand erstreckend, unbewegt stehen, während oben der arsch verdunkelt, bis auch an seiner stelle der schwarze raum mit den sternen da ist.

mit einem einzigen mächtigen ruck, während die leuchtschrift weiterhin stillsteht, setzt die bewegung aller sterne ein, etwas rascher als zu beginn, nach hinten, auf einen unendlich fernen zielpunkt zu.

das licht der schrift wird noch intensiver, ein beben geht durch die schrift, als wollte sie sich losreissen. dann schiessen die buchstaben, einzeln, in unregelmässiger folge, aus der linie der schrift heraus, jeder in der gleichen richtung, eine kurve nach links, kurz abwärts, dann aufwärts und unerhört rasch, wie leuchtende raumschiffe, in der richtung der sterne hinein in den raum.

Der Text ist der 1974 im Verlag Luchterhand erschienenen Anthologie „ernst jandl: für alle“ entnommen.

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