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Die Kunst nazifizierte sich selbst

1996 gab es in Braunschweig wegen einer Retrospektive des NS-Künstlers Paul Hähndel einen Skandal. Kurz darauf begannen Historiker, die städtischen Archive nach Nazi-Kunst zu durchforsten. Das Ergebnis ist nun in Braunschweiger Museen zu sehen

von REGINA NAHRWOLD

Die fünf jungen Burschen rüsten gerade zum Aufbruch in die Schlacht. Sie schnallen Gewehre, Rucksäcke, Feldflaschen um. Im Landsergrau ihrer Wehrmachtsuniformen zeichnen sich die Gestalten als dunkle Silhouetten vor einem fahlgelblichem Himmel ab. Die alles überragende Mittelachse bildet der Maler des 1941 entstandenen Bildes „Fertigmachen“ selbst, der 27-jährige Paul Hähndel, der im gleichen Jahr in Smolensk an den Folgen einer Kriegsverletzung starb.

Der Ernst in den jungen Gesichtern: Anzeichen eines stillen Widerstandes oder Entschlossenheit zum Durchhalten um jeden Preis? Das Bild: subtile Kritik am NS-Regime oder Kriegspropaganda? Der Maler: verführt von den braunen Ideologen oder überzeugter Nationalsozialist, Opfer oder Täter? Solche Fragen bewegten die Öffentlichkeit, nachdem das Bild 1996 in einer Paul-Hähndel-Retrospektive des Städtischen Museums Braunschweig zu sehen war.

Weniger Skrupel hatte offensichtlich die Museumsleitung. Bei der Eröffnungsveranstaltung prangte vor dem Gemälde ein großer Blumenstrauß der Künstlerwitwe Elisabeth Hähndel. Diese hatte 1994 den Nachlass ihres Mannes dem Städtischen Museum übereignet und 30.000 DM für eine neu gegründete Paul-Hähndel-Stiftung spendiert. Die Förderung junger Künstler sollte deren Ziel sein – ungeachtet der Tatsache, dass „Fertigmachen“ 1941 in München groß rauskam, der Maler selbst, Mitglied der NSDAP und SA, 1942 in Braunschweig mit einer Gedächtnisausstellung geehrt worden war. So geriet die Eröffnung zum Eklat, erst recht eine Diskussion, die unter dem Druck der Öffentlichkeit gegen den Willen der Museumsleitung durchgesetzt wurde. Nach 15 Tagen schloss Oberstadtdirektor Bräcklein die Schau und kündigte eine Neubearbeitung des Themas an.

Jetzt ist das Ergebnis zu sehen: Für „Deutsche Kunst in Braunschweig 1933 - 1945. Kunst im Nationalsozialismus“ hat eine Gruppe von Historikern und Kunsthistorikern unter Leitung des Kunsthochschulprofessors Heino R. Möller vier Jahre recherchiert. Ein wissenschaftlicher Beirat, dem u. a. der Experte Hans-Ernst Mittig, Berlin, angehörte, begleitete das Projekt. Das Konzept: anstelle einer Tabuisierung als „Unkunst“ die sachliche Analyse der Funktionen und Wirkungsmechanismen von Kunst im totalitären Herrschaftssystem. Immerhin geht es nicht nur um Kunst des Nationalsozialismus, etwa „die markigen Bauern, die erkennbar deutsche Scholle umpflügen, die Soldaten mit heroischen Kinnladen und Hakenkreuzen in den Pupillen“, so Möller. Viel mehr soll Kunst im Nationalsozialismus gezeigt werden – auch die Biederkeit der zahllosen, vermeintlich unpolitischen Landschaften und Blumensträuße, als Kehrseite der Verbrechen der Nazis.

Entsprechend weit und facettenreich ist das Spektrum der Braunschweiger Künstler, die mit (Selbst-)Portrait, Biografie und repräsentativen Werken vorgestellt werden. Sehr viele sind es, deren konservative Arbeiten mit dem Kunstideal der neuen Machthaber mühelos konform gingen, die ausstellten, Posten und Ämter annahmen, etwa die Bildhauer Ludwig Kasper und Paul Egon Schiffers. Manche, wie Gertrud Henninger oder Karl Sommer, vollzogen eine Wendung von Expressionismus und Avantgarde zur Reaktion; der Hannoveraner Adolf Wissel, ein erstaunlich guter Maler der Neuen Sachlichkeit, konnte dagegen in den neuen Portraits von Bauern und Jungmädeln seinen bisherigen Malstil beibehalten. Andere wiederum stellten sich nur zu bereitwillig in den Dienst der NS-Ideologie. So schuf Walther Hoeck 1935 für den Braunschweiger Bahnhof das monumentale Wandbild „Das junge Deutschland“ und 1936 ein riesiges Ehrenmal für Gefallene des 1. Weltkrieges. Zur Anpassung gezwungen wurde niemand, die „Selbstnazifizierung“ der Künstler ist das Erschreckende.

Den Auftakt der Schau bilden Arbeiten von Josef Albers, Ralf Cavael und Karl Sommers – eine Reminiszenz an die letzte Ausstellung der 1923 von Otto und Käthe Ralfs gegründeten „Gesellschaft der Freunde junger Kunst“. Sie wurde Mitte März 1933 geschlossen und nur 14 Tage später „abgelöst“ von der „1. Wanderausstellung Deutscher Kunst“. Hans Adolf Bühlers grauenhaft kitschige Apotheose seines Lehrers Hans Thoma, die tümelnden Holzschnittporträts Bachs und Brahms’ von (dem eigentlich sehr regimekritischen) A. Paul Weber, idyllische Landschaften und betende Bauern zeigen, was die Stunde geschlagen hatte: Ausschaltung der Avantgarde, Rückkehr zum 19. Jahrhundert.

In der Abteilung „Künstler im Krieg“ begegnen wir Paul Hähndel wieder. Er ist hier eine der zentralen Gestalten, „Fertigmachen“ eines der Hauptexponate. Die Rekonstruktion des Kontextes, in dem sich das Gemälde 1941 in der „Großen Deutschen Kunstausstellung“ befand, lässt jetzt keinen Zweifel mehr zu: nahtlos reiht es sich ein in die Phalanx der kriegsverherrlichenden Darstellungen eines Eber, Hommel, Padua u. a. Das „Tugendbild des Soldaten der deutschen Wehmacht“ (Möller) wurde denn auch als Postkarte in hoher Auflage verbreitet. Neben Hähndel ein weiteres Mal Walter Hoeck mit mehreren Versionen des „Brennenden Braunschweig“, die nach der Bombardierung der Stadt im Oktober 1944 entstanden: Eine apokalyptische Feuersäule verschlingt die Stadt mit ihren mittelalterlichen Kirchen. Die Darstellung war derartig gefragt, dass Hoeck zahlreiche Wiederholungen davon anfertigte, für Amtsstube oder Wohnzimmer das Format jeweils variierend. Der „Opfermythos“ vom Untergang einer schönen, alten, deutschen Fachwerkstadt lebt bei vielen Braunschweigern bis heute ungebrochen fort.

Gründlich und differenziert ist die Darstellung von Kunst und Kulturpolitik im nationalsozialistischen Herrschaftskonsens, einschließlich Architektur, Puppenspiel und Umgestaltung des Braunschweiger Doms zur nationalen Weihestätte. Doch beim Gang durch die Räume voller mittelmäßig-miefiger Produkte beschleicht einen immer mehr die Frage: Mussten 500.000 DM dafür ausgegeben werden, um ca. 500 Exponate auf 1.800 Quadratmetern Ausstellungsfläche auszubreiten? Eine Konzentration auf Hauptfiguren, ergänzt um typische Beispiele durchschnittlicher Massenware, wäre sicherlich hilfreicher gewesen – oder müssen wir wirklich noch in die letzte Faser eines altdeutsch-kläubelnden Holzschnittes von Fritz Röhrs hineinkriechen, um zu verstehen, wie NS-Kunst funktioniert hat? Brauchen wir die Erläuterung, dass Wissels „Kalenberger Bauernmädchen“ den „Eindruck nordischen Rassepotentials entstehen“ lassen? Hier geht bisweilen die kritische Distanz verloren, in der nachvollziehenden Genauigkeit lauert eben auch die Gefahr der Identifikation des Wissenschaftlers mit seinem Gegenstand.

Ausstellung und Katalog enthalten sich bewusst jeglicher ästhetischen und moralischen Wertung, um nicht jener pauschalen Verdammung Vorschub zu leisten, die eine ernsthafte Auseinandersetzung mit NS-Kunst verdrängt. Aber wenn „Kunst ist, was übrig bleibt, ohne zu altern“ (Karlheinz Deschner), dann ist NS-Kunst keine, denn sie sieht verdammt alt aus. Sie ist und bleibt historisches Dokument eines unheilvollen Zeitgeistes. Gleichwohl haben die Ausstellungsmacher mit ihrer Sichtung des Materials eine Aufklärungsarbeit geleistet, die nicht nur Braunschweig noch immer dringend nötig hat.

Bis 2. 7., Städtisches Museum Braunschweig und Landesmuseum Braunschweig, Katalog: 58 DM

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