: Krieg und Frieden
■ Der russische Dirigent Valerie Gergiev lenkt das NDR-Sinfonie-orchester sicher durch Schostakowitschs Sinfonieungetüm
Von hinten, aus Zuschauerperspektive macht Valerie Gergiev bisweilen eine merkwürdige Figur. Mal erstarrt er in gebückter Haltung, während die Musik sich munter weiterentwickelt, mal fächelt er parkinsonesk mit der Hand, mal streckt er den linken Arm vom Körper, lauscht, wartet ab – und keiner weiß warum. Nur gut, dass es Fernsehen gibt.
In einer TV-Reportage nämlich über Gergievs Probenarbeiten für Prokofjevs Skythischer Suite konnte man das wohl ausdrucksstärkste Gesicht unter den heutigen Dirigenten bewundern. Gergiev dirigiert bevorzugt mit den Augen. Die Stirn ist zerklüftet. Ein gutes Omen für das NDR-Konzert in der Glocke. Denn auch die musikalische Textur in Dimitri Schostakowitschs 7. Sinfonie ist zerfurcht, die sich verbirgt hinter den reichlich konventionellen Satzbezeichnungen Allegretto, Moderato, Adagio, Allegro. Jeder einzelne Satz des eineinviertelstündigen Mammutwerks beinhaltet jene Gegensätze und Entwicklungen, die einst eine ganze Sinfonie umfasste.
Der Zeitpunkt für Schostakowitsch (1906-75) ist klasse gewählt, aus zwei Gründen. Erstens hat man es bei diesem Lebemann passend zur EM mit einem echten Fußballirren zu tun. Er reiste seinen Leningrader Lieblingsvereinen „Dynamo“ und „Zenith“ gelegentlich bei Auswärtsspielen hinterher und notierte die neuesten Fussballergebnisse mitten in sein privates Kompositionenverzeichnis. Zweitens wurden vor Kurzem beim Propyläen-Verlag für 48 Mark Schostakowitschs aufsehenerregende “Memoiren“ aus zweiter Hand neuaufgelegt. Der Meister soll sie angeblich dem jungen Musikjournalisten Solomon Wolkow in die Feder diktiert haben. Diese Abrechnung mit dem Stalinismus, aber auch mit vielen sowjetischen Künstlerkollegen wurde im Westen natürlich gefeiert. Zunächst. Bald aber zweifelte man an ihrer Authentizität.
Mittlerweile halten die meisten Fachleute das Werk für echt. Das ist furchtbar verschlungen und kompliziert – wie eigentlich alles bei Schostakowitsch: seine Rezeption im Westen; sein Nachgeben/Selbstbehaupten gegenüber dem stalinistischen Kulturfresser Andrej Schdanow; aber auch einzelne Musikpassagen, zum Beispiel das berühmte minutenlange Crensendo in der 7. Sinfonie, wo ein leises mystisches Trommelsäuseln langsam aber sicher zu einem brachialen Marsch emaniert, und zwar mittels einer Wiederholungsorgie, die nach Schostakowitschs eigenem Bekunden von Ravels Bolero inspiriert war.
Bei der Uraufführung 1942 hörten die Menschen in dieser Intensitätssteigerung die blutigen Stiefel der Deutschen. Manche späteren Musikwissenschaftler dagegen mutmaßten in dieser Lärmexplosion das Anwachsen der sowjetischen Gegenoffensive. Schostakowitsch komponierte die Siebte teils in Leningrad, während Ehefrau und zwei Kinder in den Luftschutzkeller abtauchten, teils im Ural, wo man ihn zusammen mit der kulturellen Elite – David Oistrach, Emil Gilels, Sergej Eisenstein, Ilja Ehrenburg – zum eigenen Schutz verfrachtete. Die Sinfonie und ihr Schöpfer wurden in UdSSR wie im antihitlerschen Ausland hymnisch gefeiert als Symbol des Widerstands. Schostakowitsch erhielt dafür den Stalinpreis 1. Klasse und kaufte von dem Geld Milchpulver für Freunde. Aber schon 1948 prasselten die üblichen Vorwürfe – Formalismus, Volksfeindlichkeit, Elitarismus, fehlende Melodiösität, kurz „Chaos statt Musik“ (Stalin, 1936) – in lebensbedrohlicher Weise auf den Komponisten ein. An der Marschstelle der Siebten monierte man eine Verharmlosung des Faschismus.
Wie wenig solches Deutungsgezeter der Musik anhaben kann, zeigte Gergiev in der Glocke: Krieg und Frieden auch in der Musikgeschichte. Die inkriminierte Passage erlebt der heutige Hörer ganz abstrakt: als faszinierendes Beispiel einer unerbittlichen Steigerungslogik, die sogar Brucknersche Dimensionen sprengt. Auch innige Passagen gelingen dem Orchester oft vorzüglich – etwa am Beginn des zweiten Satzes – aber nicht immer. Vielleicht hatte Gergiev als Motto folgendes Schostakowitschzitat im Kopf: „Warten auf die Exekution ist eines der Themen, die mich mein Leben hindurch marterten.“
Nach einem solchem Konzert, das in den Tiefen der Geschichte und überhaupt stochert, gibt's natürlich keine Zugabe. bk
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