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Entführungsparadies Deutschland?

Seit Jahren klagen ausländische Elternteile, deutsche Gerichte würden bei Sorgerechtsstreitigkeiten die deutschen bevorzugen. Ab 2001 tritt eine EU-Verordnung in Kraft, nach der nur noch das Gericht im Land, in dem das Ehepaar lebte, entscheidet

von HEIDE OESTREICH

Lieber bei Mama wohnen oder lieber bei Papa? Kinder geschiedener Eltern haben ein Problem. Wenn die Eltern in zwei verschiedenen Ländern leben, haben sie ein großes Problem. Denn dann wird es nicht nur juristisch, sondern eventuell auch noch politisch, das Problem.

Seit Jahren klagen ausländische Elternteile, die deutschen Gerichte würden den jeweils deutschen bevorzugen. Habe dieser das Kind entführt oder entzogen, verschleppe das Gericht das Verfahren so lange, bis das Kind sich eingewöhnt habe und schon deshalb schwerlich ins Ausland zurückkehren könne. Der französische Vater Xavier Tinel trat im Mai in den Hungerstreik, weil ein Münchner Gericht die Entführung seiner Töchter nachträglich legitimierte: Die Mutter hatte angegeben, er sei gewalttätig. Daraufhin sprach man ihr das Sorgerecht zu. Ein französisches Gericht aber hatte zuvor dem Vater das Sorgerecht erteilt.

Inzwischen sind ähnliche Fälle auf höchster Ebene angekommen: Bereits 1998 hatte der französische Präsident Jacques Chirac Kanzler Schröder ins Gebet genommen. Der ließ flugs eine deutsch-französische ParlamentarierInnen-Gruppe einrichten, die sich der Fälle annehmen sollte. Nach dem Besuch Clintons entschied die Regierung, diese Gruppe zu erweitern: Jetzt, das kündigte die Vorsitzende der Gruppe, Angelica Schwall-Düren, gestern an, sollen bilaterale „Mediatorengruppen“ für alle Länder gebildet werden, mit denen es Krach um die Kinder gibt.

Aber können Parlamentarierinnen an solchen Konflikten tatsächlich etwas ändern? Ihr Bemühen bestand bislang darin, die Streitigkeiten von der politischen und juristischen Ebene herunterzuholen: Sie versuchen, die Eltern zu überzeugen, dass es für die Kinder besser ist, mit beiden Kontakt zu haben. So erklärte sich die Ex-Frau von Tinel dazu bereit, dem Vater Besuche zu gestatten. Allein, das reichte ihm nicht: Es geht um mehr.

Wie komplex auch immer die Einzelfälle sein mögen, ob zum Beispiel Tinel tatsächlich gewalttätig ist und es deshalb gute Gründe gäbe, ihm das Sorgerecht zu verweigern – es gibt auch ein juristisches Problem: Es ist die eigentümliche Auslegung, die deutsche Gerichte dem Haager Abkommen über die zivilrechtlichen Aspekte von Kindesentführungen (HKÜ) angedeihen lassen. Das stellt vor allem das Prinzip der prompt return – der sofortigen Rückkehr, auf. Wenn deutsche Gerichte aber erst anfangen zu überprüfen, ob es nicht gute Gründe geben könnte, aus denen ein Elternteil ein Kind entführt haben könnte, dann bleiben die Kinder durch das verlängerte Verfahren so lange in Deutschland, dass man sie kaum zurückschicken kann. Das HKÜ aber wollte genau diesen Fall vermeiden: Es gehe nicht ums Sorgerecht, präzisiert das Abkommen. Das solle in einem separaten Verfahren geklärt werden. Wichtiger ist laut Abkommen, dass Eltern den Aufenthalt ihrer Kinder nicht nach dem Faustrecht bestimmen können.

Die Deutschen tun sich schwer mit dem HKÜ. „Wir legen den entsprechenden Artikel weiter aus als andere Länder“, so Rolf Stöckel, der Kinderbeauftragte der SPD-Fraktion. Französische Juristen würden die Rückkehr nur verweigern, wenn es konkrete Gewaltandrohungen gegenüber dem Kind gebe, die Deutschen dagegen prüfen alle möglichen Vorwürfe, die von dem deutschen Elternteil erhoben wird – das dauert.

„Es fehlt eine europäische Instanz, die das Haager Abkommen überwacht und auslegt“, analysiert der französische Richter Jean-François Bohnert, der die Zusammenarbeit des französischen und des deutschen Justizministeriums koordiniert: „Denn es gibt einfach zwei verschiedene Rechtsauffassungen.“ Dem tragen die europäischen JustizministerInnen jetzt Rechnung: Ab 2001 wird eine EU-Verordnung in Kraft treten, nach der nur noch das Gericht in dem Land, in dem die Eltern wohnten, über das Sorgerecht entscheiden kann.

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