Der Präzedenzfall

Familie Bashir? Illegal. Die Pastoren Sabine Dreßler und Klaus Kuhlmann? Angeklagt

aus Braunschweig HEIKE HAARHOFF

Jeden Dienstag kommt der Chor. Jeden, mit Ausnahme von Schulferien und Feiertagen. Er baut dann seine Notenständer in ihrem Wohnzimmer auf, und weil die Bashirs nur über einen Raum verfügen, einen Raum für eine achtköpfige Familie, kommt es, dass die Kirchenlieder, die der Chor einstudiert, auch in die Schlaf-, Kinder- und Essecke schallen. Aber zum Glück mögen die Bashirs Kirchenmusik gern. Auch an den Handarbeits- und den Seniorenkreis der evangelisch-reformierten Gemeinde Braunschweig, für die sie regelmäßig den Fernseher ausschalten, die Möbel rücken und ihre Gespräche unterbrechen, haben sie sich gewöhnt.

Die Umstände: kläglich

„Am Anfang dachten wir, drei Wochen müssen wir hier bleiben“, sagt Rafiga Bashir, die Mutter, „drei Wochen, wie sollen wir das aushalten?“ Drei Wochen Warten zu acht in einem Zimmer. Drei Wochen ohne die Möglichkeit, das Haus zu verlassen. Drei Wochen unter weitestgehendem Verzicht auf Privatsphäre. Denn der Gemeindesaal, in den Rafiga und Ahmad Bashir und ihre sechs Kinder im Dezember 1996 einzogen, ist normalerweise ein Ort des öffentlichen Kirchenlebens. Er ist nicht dafür konzipiert, einer pakistanischen Familie, der in Deutschland wegen eines gescheiterten Asylantrags Verhaftung und Abschiebung drohen und in ihrer Heimat wegen ihrer Religion Folter und Gefängnis, Kirchenasyl zu gewähren.

Aber für drei Wochen, also bis der niedersächsische Landtag sich, ganz bestimmt, ihrer Petition angenommen haben würde und ihnen, ganz bestimmt, doch noch eine Duldung erteilt hätte, würde es gehen, dachten die Bashirs und die Gemeinde damals. Dass sie im Juni 2000, dreieinhalb Jahre später, immer noch im freiwilligen Braunschweiger Gefängnis sitzen, dachten sie nicht.

„Wir werden ausgehungert“, sagt Hildegard Grosse von der Bundesarbeitsgemeinschaft Asyl in der Kirche. Denn was die Bashirs und die evangelische Gemeinde Braunschweig erleben, droht zum bundesdeutschen Trend zu werden: Ausländerbehörden, Landtage und Gerichte, so schildern es Flüchtlingsräte und Pro Asyl, verzögern neuerdings ihre Entscheidungen über Petitionen, Härtefallanträge und Gnadengesuche, sobald sie erfahren, dass abgelehnte Asylbewerber Zuflucht bei Kirchengemeinden gefunden haben. Man könnte auch sagen: Sie ignorieren die Flüchtlinge und wissen dabei genau, dass jeder weitere Tag in Ungewissheit und Illegalität zermürbt und den Aufenthalt trotz aller Gastfreundschaft unerträglich macht.

Die Flüchtlinge: ignoriert

„Erst nach fünf Monaten haben wir überhaupt wieder etwas gehört“, sagt Rafiga Bashir. Es war keine gute Nachricht. „Es war alles abgelehnt, die Petition, die Bitte um Arbeitserlaubnis, alles, obwohl wir sogar Arbeitsplätze gehabt hätten, Jobs in der Gastronomie, die hatte die Gemeinde uns besorgt, wir hätten kein Geld vom Staat gebraucht.“ Stattdessen: nichts. Außer Warten. Dass irgendetwas passiert. Denn zurück nach Pakistan, das ist die einzige Sicherheit der Bashirs, können sie nicht.

Kirchenasyl, ursprünglich zur Überbrückung einer kurzen Zeitspanne gedacht – bis zur Wiederaufnahme des Asylverfahrens, bis zur Weiterreise in ein Drittland oder bis zur Rückkehr ins Heimatland unter Begleitung internationaler Beobachter –, verliert damit nicht nur seinen Anspruch, verliert nicht nur bisweilen die Akzeptanz innerhalb der Gemeinden. In Braunschweig hat es jetzt erstmals die jahrelange, stille Tolerierung durch die Justiz eingebüßt: Wegen „täterschaftlichen Einschleusens von Ausländern“ stehen die Pastoren Sabine Dreßler und Klaus Kuhlmann vor dem Braunschweiger Amtsgericht. Ein Novum: Pfarrer, die Flüchtlinge schützen, als Straftäter anzuklagen, das hatte sich die Staatsanwaltschaft bislang nicht getraut.

Ermittlungen gegen Pastoren wegen Verstoßes gegen das Ausländerrecht, sicher, die hatte es gegeben, hier und da auch mal ein Bußgeld, nie aber ein handfestes Gerichtsverfahren und schon gar nicht nach dem so genannten Schlepper- und Schleuserparagraphen. Nach dem macht sich schuldig, wer Ausländer illegal über die Grenze nach Deutschland bringt und sich am Geschäft mit der Flucht bereichert. Darüber hinaus, so die Auffassung der Staatsanwaltschaft, soll ab sofort als Schlepper verurteilt werden können, wer Ausländer dabei unterstützt, ohne Aufenthaltsrecht in Deutschland zu bleiben. Sabine Dreßler und Klaus Kuhlmann beispielsweise. Wenn es schief geht, droht den beiden fünf Jahre Knast.

„Ich bin der Meinung, dass wir uns nicht wie Schlepper verhalten haben“, sagt Sabine Dreßler und begegnet dem Blick ihres Gegenübers, der unwillkürlich die 36-Jährige taxiert: modisch kurze Haare, schicke Brille, Jacket, Pumps. Eine Frau, die Steuerberaterin sein könnte. Oder Grafikerin. Oder eben Pastorin. Aber nicht Schlepperin. Eine Schlepperin sagt nicht Sätze wie: „Hier sind acht Persönlichkeiten, für deren Zukunft es sich lohnt zu kämpfen.“ Eine Schlepperin informiert Polizei und Behörden nicht über Aufenthaltsort und Lebensgeschichte ihrer Schützlinge. Eine Schlepperin sammelt keine Spenden für Mittellose. Und vor allem hält eine Schlepperin nicht zu den Flüchtlingen, wenn es für sie selbst brenzlig wird.

Das, sagt Sabine Dreßlers Rechtsanwalt Michael Anding, könnten Staatsanwalt und Richter auch wissen, spätestens seit dem ersten und bislang einzigen Verhandlungstag Ende Januar in Braunschweig, nachdem der Prozess zwecks weiterer Zeugenanhörung bis auf weiteres unterbrochen wurde. Nicht einmal das Amtsgericht Braunschweig weiß, ob er in sechs Tagen oder vier Monaten fortgesetzt wird: Das, heißt es in der Pressestelle, hänge von der Staatsanwaltschaft ab, die noch Zeugen befragen müsse. Denn der Staatsanwaltschaft geht es um viel, sagt Anwalt Anding, der auch als Rechtsberater für das UN-Flüchtlingshilfswerk tätig ist: „Wir haben es mit einer neuen Dimension der Kriminalisierung von Kirchenasyl zu tun. Die Keule wird gegen Pastoren geschwungen, die Sozialcourage zeigen.“

Ein Einschüchterungsversuch, der, sollte er erfolgreich sein, verheerende Auswirkungen hätte: Wandern die beiden Pastoren ins Gefängnis und wird aus dem Präzedenzfall Methode, dann ist das das Ende von Kirchenasyl in Deutschland. Dann wird die Flüchtlingszahl statistisch sinken und tatsächlich steigen, weil in die Illegaliät gezwungene Menschen sich so schlecht zählen lassen. Besorgte Kollegen hatten Sabine Dreßler und Klaus Kuhlmann deswegen geraten, doch lieber den der Anklage vorausgegangenen Strafbefehl von 6.000 Mark zu bezahlen, um so einen Prozess mit ungewissem Ausgang zu vermeiden. „Aber damit hätten wir den Straftatbestand anerkannt“, sagt Sabine Dreßler. Also hätten die Bashirs gehen müssen. Eine mehr als 20-jährige Fluchtgeschichte, die in den 70er-Jahren in Pakistan mit einem Gesetz gegen die muslimische Glaubensgemeinschaft Ahmadiyya begann, eine Geschichte, die die Bashirs über Oman 1989 nach Deutschland ins Asylbewerbersammellager brachte und schließlich Ende 1996 ins Braunschweiger Kirchenasyl führte, wäre umsonst gelebt worden.

Die Taktik: Zeit gewinnen

So aber hat die Pastorin Zeit gewonnen, der pakistanischen Familie andernorts ein Leben in der Legalität zu ermöglichen. Wozu Deutschland sich nicht in der Lage sah – den Bashirs Aufenthaltsrecht zu erteilen, wenn sie nachweisen, dass sie ihren Lebensunterhalt selbst bestreiten –, war für Kanada eine Sache von Formalitäten. Seit sich fünf kanadische Staatsbürger, angesprochen von Sabine Dreßler, verpflichtet haben, mindestens ein Jahr lang für die Bashirs finanziell geradezustehen, laufen die Ausreisevorbereitungen der Familie nach Kanada auf vollen Touren. Noch in diesem Jahr, so die Hoffnung, werden sie ins Flugzeug steigen.

Es wird kein heiterer Aufbruch sein. „Ich bin in Deutschland geboren“, sagt Ferhan Bashir, der zehnjährige Sohn, und guckt trotzig, „ich bin Deutscher.“ Er will das Land, das seine Eltern und strafmündigen Geschwister gezwungen hat, ihre besten Jahre in Flüchtlingsunterkünften und im Gefängnis unter Freunden zu verbringen, nicht verlassen. Denn zu Kindern ist das Land freundlich: Ferhan ist hier im Kindergarten gewesen und jetzt in der Schule; er hat Fußballkumpel und sammelt die Pokémons. Was, wenn es die Abziehbilder in Kanada nicht gibt, und falls doch, wie soll er den anderen Kindern klarmachen, welche er tauschen will und welche nicht? Englische Vokabeln, die er und seine Geschwister seit Wochen zur Vorbereitung auf Kanada auswendig lernen, findet er öde.

Imrana, Rehan, Lugman, Zeesham und Rehana, seine Geschwister, sind in Deutschland auch zur Schule gegangen, Zeesham, der 23-jährige Bruder, hatte sogar eine Konditorlehre begonnen, aber dann wurde das Asylgesuch abgelehnt, und einen nunmehr illegal in Deutschland lebenden Lehrling mochte sich die Bäckerei nicht halten. Seitdem verbringt auch Zeesham seine Tage im Gemeindesaal. Er sagt: „Ich weiß nicht, ob sie in Kanada anerkennen werden, dass ich schon eineinhalb Jahre Konditorlehrling war.“

Immerhin hat Zeesham gute Aussichten, einen Job zu finden. Sein Vater ist sich seiner Chancen da nicht so sicher: Ein Schweißer, der seit zehn Jahren nicht mehr geschweißt hat, ist ein nicht eben begehrter Mann. Erst recht nicht, wenn er demnächst 50 wird. „Wir gehen trotzdem“, sagt er bestimmt. Denn Kanada ist bei allen Ängsten immer noch besser als lebenslänglich in der Kirche. Und dann haben die Bashirs noch ein Ziel: eines Tages als Touristen nach Braunschweig zurückzukehren, ein riesiges Fest mit der Gemeinde zu feiern und anschließend endlich das Land außerhalb des Gemeindesaals erkunden zu können.

Ob Sabine Dreßler und Klaus Kuhlmann sie auf diesem Rundgang werden begleiten können, wird demnächst vor Gericht entschieden. Denn das Verfahren gegen die beiden Pastoren, das hat die Staatsanwaltschaft bereits durchblicken lassen, werde selbstverständlich und unabhängig von einer etwaigen Ausreise der Bashirs fortgesetzt.