: Vergesst die Beichte nicht!
Die Radsportwelt fiebert der Tour de France entgegen, selbst im Vatikan hat man sie zur Chefsache erklärt. Wer macht das Rennen: ein reuiger oder ein unverbesserlicher Dopingsünder? Die obligatorische Vorschau auf den Rad-Klassiker
von JÜRGEN FRANKE
Es ist jedes Jahr das Gleiche. Die Tour de France beginnt, und alle fragen sich: Wer wird wohl diesmal gewinnen? Doch bei der Tour 2000 offenbaren sich ganz andere Fragestellungen. Nie war es so unvorhersehbar, wer am 23. Juli auch nur den Hauch einer Chance hat, das Gelbe Trikot an den Champs-Elysées überstreifen zu dürfen. Unseren übergewichtigen Ex-Champion Jan Ullrich wollen wir bei solchen Betrachtungen aus Pietätsgründen lieber gleich außen vor lassen.
Auch wenn sein Team augenscheinlich besser ist als im Vorjahr – wir denken an die Erfolge von Zabel, Hondo oder Hundertmarck bei den Klassikern –, dürfte dem Pfundskerl Ullrich mehr als ein gutes Ergebnis beim Teamzeitfahren von Nantes nach Saint-Nazaire wohl nicht beschieden sein.
Und Il Pirata Marco Pantani? Der dümpelte beim Giro d’Italia beinahe um eine Stunde dem Gewinner Garzelli hinterher. Bei seinem Tour-Sieg 1998 hatte er schließlich die Italien-Runde gewonnen. Also haken wir den auch gleich mit ab. Obgleich: Marco Pantani erhält Unterstützung von allerhöchster Stelle. Er ist im Verbund mit Gott und dem Papst. Bei einer Audienz im Vatikan forderte Johannes Paul II. zwar „Klarheit, Aufrichtigkeit und Respekt vor den eigenen Grenzen“ von allen Radsportlern. Aber er machte keinen Hehl aus seiner gesteigerten Sympathie für den italienischen Speichenhelden. Einzig ein höchst besorgter Monsignore Antonio Cecconi mahnte: „Der Radsport ist nicht ohne Sünde.“ Er meinte damit zielgerichtet Pantani und dessen vermeintliche Dopingvergehen. „Viele von euch haben illegale Substanzen eingenommen“, wetterte der Würdenträger, „nur, um aus der Maschine Mensch das Mögliche herauszupressen.“
Und was gegen zu hohe Hämatokrit-Werte zu tun sei, weiß man im Vatikan auch. „Werft die Ketten der Sklaverei ab“, so Cecconi kämpferisch, „klagt die Ungerechtigkeit an, verweigert Kompromisse. Und, liebe Radfahrer, vergesst die Beichte nicht.“ Von der profanen Realität hat der Gottesmann offenbar wenig Kenntnis, aber im Heiligen Jahr muss ein Katholik die Tour gewinnen, das ist dem Klerus klar.
Weitere Namen von Fahrern gefällig, die es bestimmt nicht schaffen werden? Ein heißer Anwärter auf einen Misserfolg ist wie in jedem Jahr Mario Cipollini, der Sprinter-Beau mit dem markanten Gebiss. Da die ersten zehn Tage der Tour ausschließlich aus Flachetappen bestehen werden, wird sich der Italiener wohl mit Erik Zabel wie ehedem ein paar nette Endspurtgefechte liefern, um dann am Fuße der Pyrenäen von Dax nach Lourdes-Hautacam den Kletterern das raue Bergklima zu überlassen. Alles andere wäre reiner Traditionsbruch und somit unsportlich. Jalabert, Museeuw, Dufaux, Zülle, Casagrande, Etxebarria, Boogerd, Winokurow, Svorada, Virenque, Durand, Steels oder der knieverletzte Bartoli: alles gute Namen, verknüpft mit Eintagserfolgen im Frühjahr, aber ob sie sich nach den 3.630 Kilometern weit vorn im Klassement wiederfinden werden, das weiß nicht einmal der Wind.
Und EPO? Macht der Stoff, mit dem enorme Leistungssteigerungen möglich sind, auch wieder mit? Bei der offensichtlichen Dummheit von Ärzten, Masseuren und Mannschaftsoffiziellen sowie den nach wie vor fehlenden Nachweiskriterien und Testmöglichkeiten dürfte die EPO-Teilnahme auch in diesem Jahr gesichert sein.
Bleibt also noch der Überflieger des letzten Jahres, der Amerikaner Lance Armstrong. Der rollte sich in seiner Heimat und bei Rennen in Europa ein, kommentierte mit coolen Sprüchen das Leistungsvermögen seiner Konkurrenten und macht auf Understatement. Was soll er auch sonst tun? Dass Freiburg im Breisgau in diesem Jahr Etappenankunfts- und Startort sein wird, ist sicherlich ein historisches Ereignis für die heimliche Öko-Hauptstadt dieser Welt. Oberbürgermeister Rolf Böhme: „Der absolute Höhepunkt.“ Nun ja. Auf alle Fälle erfordert das Freiburger Event einen Etat von 1,3 Millionen Mark. Unter sportlichen Gesichtspunkten ist die 19. Etappe insofern eine Erwähnung wert, weil sie als Einzelzeitfahren über 59 Kilometer von Freiburg nach Mulhouse führt. Danach folgen nur noch zwei Etappen. Womöglich wird die Tour de France also an diesem Samstag, dem 22. Juli, bereits vorentschieden. Alle Fans wissen: Die liebliche Gegend um Freiburg herum, das ist das Heimat-Trainingsrevier von Jan Ullrich. Woraus wenigstens die deutschen Fans den Schluss ableiten: Das wird ihm Flügel verleihen! Spätestens im Schwarzwald ist ihm das Gelbe Trikot sicher! Man kann es nur wiederholen: Der Mann kriegt diesmal keine Schnitte. Und das alles nach einer eventuell verpatzten Fußball-EM. Deutscher Sportfan, sei stark.
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